Noch einmal: Die Pandemie und die Gottesfrage

Deutschland

14. Dez 2021

Pater Dr. Ralf Huning SVD vertieft in seinem Beitrag die Einsichten zum Thema "die Coronapandemie und die Gottesfrage" aus der Sicht der Seelsorge und der kontemplativen Praxis.

Gottesfrage

Wer in der Kranken-Seelsorge arbeitet, kann ständig die Erfahrung machen, dass „Gott nicht funktioniert“. Der evangelische Klinik-Seelsorger Michael Brems ist überzeugt: „Im Krankenhaus geht die Kirche noch einmal in eine Grundschule des Glaubens, in eine Grundschule der Theologie. Statt komplexer Schachtelsätze oder Infinitesimalrechnung lernen Krankenhausseelsorger/-innen das Abc und das kleine Einmaleins. Man lernt ‚Gott‘ zu buchstabieren – und stockt manchmal schon beim ‚G‘. Man addiert die Wunder einer Woche und landet bei Null. Man trägt Hoffnung, Halt und Trost wie eine Kerze durch den Wind. Manchmal glimmt der Docht nur noch oder verlischt gar.“ (in: T. Roser [Hg.], Handbuch der Krankenhausseelsorge, 5. Aufl., Göttingen 2019, S. 68).

Brems machte die Erfahrung, dass ihm angesichts des großen, nicht erklärbaren Leids vieler Menschen die eigenen Glaubensgewissheiten verloren gingen. Wer nicht zynisch einfach leere religiöse Worthülsen von sich geben will, muss lernen, stotternd weiterzusprechen oder gar zu schweigen. „Vielleicht ist es das erste, was die Krankenhausseelsorge lernt: das Leiden von Menschen zu sehen und ernst zu nehmen und nicht mit falschem Trost und Gottesrechtfertigungen zu überspielen.“ (69). Der wichtigste Dienst als Seelsorger ist dann nicht die unerschütterliche Glaubensrede, sondern das Aushalten der Untröstlichkeit, das Da-bleiben und das Schweigen. Das eigene Nicht-Wissen über Gott und den Sinn des Leids anzuerkennen und auszuhalten, ist eine wichtige, eine befreiende Lernerfahrung. Demütig und suchend dürfen wir uns in einen leeren Raum führen lassen. Ohne etwas von Gott zu wissen, zu sehen, zu haben, sollen wir voran gehen und „dennoch“ zu glauben wagen. „Der Glaube der Krankenhausseelsorge erlebt Finsternisse und Abgründe, und fast trotzig behauptet er Gott dagegen.“ (73)

Wer sich auf einen solchen Glaubensweg einlässt – und niemand wird das tun können, ohne im Tiefsten erschüttert zu werden – kann hineingeführt werden in eine andere Dimension der Wirklichkeit. Der Glaube, so erlebte es Brems, „tritt heraus aus einer Dualität von Gut oder Schlecht, von Richtig oder Falsch, von Glauben oder Nicht-Glauben, von Leiden oder Glück, von Gott oder Nicht-Gott – hinein in einen dritten Raum. Hier wohnt die Hoffnung, dass sich eine Brücke über den Abgrund bilden kann. Sein wichtigstes Wort ist ‚und‘.“ (75) Es ist der Glaube an einen Gott, der mächtig ist UND ohnmächtig am Kreuz hängt und stirbt. Der Glaube, der anerkennt, dass Gott nicht einfach den Weltenlauf richtet, wenn wir nur gut genug beten UND der weiß, dass ohne Gott kein Sperling auf die Erde fällt (Mt 10,29). Der Glaube an einen verborgenen Gott UND an den Gott, der sichtbar wird im Antlitz meines Mitmenschen, meines Mitgeschöpfs.

Was Michael Brems über seine Erfahrungen in der Krankenhausseelsorge schreibt, entspricht weitgehend dem, was ich in den vergangenen Jahren in Stille und Kontemplation lernen durfte (ich bin darin noch immer ein Anfänger). Es entspricht auch dem, was ich im Zeugnis der Bibel erkenne, die auch voller Spannungen und Widersprüche ist. Ich erfahre meinen Glauben als einen Weg hinein in eine Dunkelheit, in der ich nichts mehr von Gott sehe, spüre oder weiß. Ich sehe mich vor die Herausforderung gestellt, im Wissen um die Unerkennbarkeit, Unverstehbarkeit und Un(be)greifbarkeit Gottes dennoch zu glauben, zu hoffen, zu lieben. Es ist das Wagnis, den Weg in eine weglose Wüste zu gehen, im der eigenen Vernunft verrückt erscheinenden Vertrauen, geführt zu werden. Ohne dass dies geplant oder gemacht werden könnte, gibt es dann manchmal tatsächlich Erfahrungen, in einem „dritten Raum“ zu sein, in dem die Dualität von Richtig oder Falsch keine Geltung mehr hat. Anders als Brems würde ich aber nicht von einem „Und“ als zentralem Wort sprechen, sondern von der Spannung zwischen „sowohl – als auch“ und „weder – noch“ (vgl. in der Septemberausgabe meine Ausführungen zum Parallelismus als wichtigstem Stilmittel biblischer Poesie). Es ist die Ahnung, dass der Gott, den es als Teil der menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung „nicht gibt“ (vgl. Dietrich Bonhoeffer), wirklich da ist. Es ist das staunende Zurückschauen und Bezeugen, wie es Jakob tat, als er erwachte: „Wirklich, der HERR ist an diesem Ort und ich wusste es nicht. (…) Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Er ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels.“ (Gen 28,16f).

Wie werden wir in ein paar Jahren auf die Pandemie-Zeit zurückschauen? Voller Schmerz und Traurigkeit über alle, die dem Virus zum Opfer fielen, vielleicht auch voller Demut, weil unsere vertraute religiöse Rede „nicht mehr funktionierte“. Doch möglicherweise auch voller Dankbarkeit, weil wir hinausgeführt wurden über den Abgrund des Leidens, der Untröstlichkeit und des Nicht-Wissens … und vielleicht dabei auf neue Weise etwas von Gottes Gegenwart und Liebe erahnen konnten. Diese Liebe Gottes zu bezeugen, ist unsere missionarische Berufung.

Pater Dr. Ralf Huning SVD

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