Die Pandemie und die Gottesfrage

Deutschland

23. Nov 2021

Das winzige Corona-Virus hat die Welt in einen Ausnahmezustand versetzt. Pater Dr. Fidelis Regi Waton SVD geht der Frage nach, wie die Coronapandemie die Existenz Gottes und sein Wirken in dieser Welt anzweifelt.

Pater Dr. Fidelis Regi Waton SVD

Die COVID-19-Pandemie hat unser Leben und unsere Zivilisation auf den Kopf gestellt. Pater Dr. Fidelis Regi Waton SVD lehrt Philosophie an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie. In Verbum SVD lenkt er den Blick auf die Gottesfrage in der aktuellen Ausnahmesituation.

Das winzige Corona-Virus hat die Welt in einen Ausnahmezustand versetzt und Regierungen veranlasst, demokratische Rechte zugunsten der Gesundheitsvorsorge einzuschränken, wodurch die Grenze zwischen Demokratie und Diktatur nach Ansicht mancher aufgeweicht wurde. Krisenbewältigung ist gefragt, sowohl persönlich wie gesellschaftlich. Die Regulierungen haben sich auch auf die Religionsfreiheit ausgewirkt, da sie Beschränkungen bis hin zur Aufhebung gemeinsamer Rituale in den Gotteshäusern zur Folge hatten. Die leeren Bänke in den Kirchen erinnern Pater Fidelis an die Proklamation des Todes Gottes von Friedrich Nieztsche durch die Stimme des Übermenschen: Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! In der Pandemie wirken die leeren Gotteshäuser wie „Gräber und Grabmäler Gottes“. In seinem Ausspruch entlarvt Nieztsche die sinnentleerte Religion mit ihren Dogmen und Kulten. Seine provozierende Kritik bleibt brisant und relevant bis heute.

Aus der Tatsache, dass sich die Pandemie weder durch Gebetsmarathons noch religiöse Rituale eindämmen ließ, folgert P. Fidelis, dass wir uns von der Vorstellung des „Gott-wird-es schon-richten“ verabschieden müssen. Unerbittlich hat die globale virologische Katastrophe für viele den Glauben an die Existenz Gottes erschüttert und das traditionelle Gottesbild und die regelmäßigen Formen der öffentlichen rituellen Veranstaltungen in Frage gestellt. Gilt es, einen anderen Ort und eine neue Perspektive für die Gottesverehrung zu finden, um Nietzsches These negieren zu können? Es hat sich gezeigt, dass virtuelle religiöse Aktivitäten und Livestream-Gottesdienste lediglich die triviale Zementierung der in die Kritik geratenen klerikalzentrierten und sakramentalisierten Religion darstellen und dass der Cyberraum keineswegs die Biosphäre der Gottesbegegnung ist.

Pater Fidelis wirft Fragen auf und sucht nach Antworten. Wenn Gott existiert, wenn er gut und allmächtig ist, warum gibt es Unglück, Leid und Übel in der Welt? Die „Theodizee“-Frage haben Denker aller Generationen, Religionen und Kulturkreise gestellt. In der jüdisch-christlichen Tradition wird die Frage des Leids seit Adam und Eva und dem später dem gottesfürchtigen, leidenden Ijob mit Schuld und Strafe Gottes für Fehlverhalten in Verbindung gebracht. Das tradierte, unerträgliche Sünde-Strafe-Muster, das einen sadistischen Gott vorstellt, wurde nach und nach durch die Auffassung von einem barmherzigen Gott abgelöst.

Das Leiden als notwendigen Reinigungsprozess zu sehen, der dem geistigen Wachstum des Menschen dient, führt nicht weiter, da Leiden nicht notwendigerweise Güte hervorbringt. Besonders das Leiden von Kindern und unschuldigen Menschen durch Kriege, Krankheiten oder Naturkatastrophen. Die brutale und völlig sinnlose Shoah, Massenvernichtung in Auschwitz, hat einen Paradigmenwechsel der jüdischen und christlichen Theologie bewirkt und ein neues und radikales Gottesbild hervorgebracht. Ist diese von Gott aus freiem Willen erschaffene Welt trotz ihrer Unvollkommenheit die beste aller möglichen Welten? Wie geht der Mensch mit dem Bösen um, dem metaphysischen und dem natürlichen Übel und dem moralischen Übel, das mit Schuld und Sünde zusammenhängt und negative Folge der menschlich geschenkten Freiheit ist? Trägt der Mensch die Verantwortung für dieses Übel? Mangelt es ihm an Gutem, ist er „blind“ im Sinne Thomas von Aquins? Bei diesen Fragen stößt die menschliche Vernunft an ihre Grenzen, sie scheinen unauflöslich zu sein.

Eines steht fest: Gott „funktioniert“ nicht. Unterscheidet man zwischen physischer und nicht-physischer Welt, ist eine Beteiligung immaterieller Wesen wie Gott, Seele, Geist, Engel oder Satan im kausalen Netzwerk der physischen Welt nicht akzeptabel. Sie greifen nicht in das kausale Geschehen ein, eine mirakulöse göttlichen Intervention ist äußerst fragwürdig. Das Konzept Gott ist für das physikalistische Weltbild irrelevant. Seit Charles Darwin funktionieren Naturgesetzte ohne Gott. Auch für wissenschaftliche und technologische Fortschritte, für Medikamente und Impfstoffe gegen Viren wird Gott nicht benötigt. Allerdings wird der Physiker Werner Heisenberg mit der Erkenntnis zitiert, dass der erste Schluck aus dem Becher der Naturwissenschaft atheistisch mache, aber Gott auf dem Grund des Bechers warte. Interessant ist auch der Gedanke des Hirnforschers Gerhard Roth: „Wenn es Gott denn gibt, ist er mit hoher Wahrscheinlichkeit – Genaues kann man da nicht sagen – völlig anders, als sich Menschen, Theologen, der Papst oder sonst wer jemals vorstellen konnten oder können.“

Gott lässt sich nicht durch das von Menschen gemachte Schema einschließen. Er ist für das vorhandene dogmatische, liturgische, formalistische und moralische religiöse System untauglich. Glaube und Religion dürfen nicht moralisiert, ästhetisiert und rationalisiert werden. Die kollektive Überlegenheit der Religion ist absurd, wesentlich ist die persönliche Religiosität, nicht Rituale, Lehren oder sakrale Institutionen, die durch Vernunft und Tradition konstruiert wurden. Der Glaube, als existenzielle persönliche Entscheidung, beginnt dort, wo das Denken aufhört. Der „Sprung in den Glauben“ ist einem Abheben ins Ungewisse vergleichbar. Gleichermaßen riskantes Wagnis und Akt der Freiheit, der die Angst überwindet, nicht sicher auf der anderen Seite landen zu können. Gott kann und darf nicht gefesselt werden. Er ist – P. Fidelis zitiert hier Karl Rahner – das heilige Geheimnis, das die Vernunft nie ganz ergründen kann. „Wenn du es begreifst, ist es nicht Gott“.

Wie beim Geheimnis Gottes gibt es auch ein Geheimnis des Leidens, das logisch unerklärlich ist. Diese Art von Leiden könnte im Glauben an einen ohnmächtigen und mitleidenden Gott, der vielleicht auch inmitten des Leidens anwesend ist, leichter zu ertragen sein.

Pater Fidelis zieht die Schlussfolgerung: Gott ist für keines unserer Systeme relevant, er funktioniert nicht so, wie man es sich vorstellt und von ihm erwartet. Er ist vielleicht wirklich tot auf allen konventionellen Plattformen der Religionen mit ihren Doktrinen und rituellen liturgischen Handlungen in den Gotteshäusern. Als „verborgener Gott“ jedoch fordert er die an ihn Glaubenden heraus, kreativ und unermüdlich nach ihm zu suchen und zu versuchen, ihn in anderen Zonen zu finden, als an den physischen und virtuellen Anbetungsstätten. Ein Paradigmenwechsel der Umwertung aller Werte ist vonnöten. Eine Mystik der offenen Augen, um Gott wieder aufspüren zu können. Die zum Himmel gerichtete Blickrichtung der Gottesverehrung muss folglich auf die Welt gelenkt werden. Eine glaubwürdige Lektion (u.a. aus der pandemischen Krise) wäre es, dass man Gott an den Orten suchen und ihm begegnen kann, wo vielfältige anfällige und marginalisierte Gesichter auftreten. Wie der Befreiungstheologe Dom Helder Camara forderte: „Gott nicht in der Bequemlichkeit müßiger Stunden, in luxuriösen Kirchen und pompösen, aber oft so leeren Gottesdiensten zu suchen, sondern dort, wo er wirklich ist und uns erwartet und unsere Präsenz fordert: in der Menschheit, in den Armen, in den Unterdrückten, in den Opfern der Ungerechtigkeit, für die wir nur allzu oft mitschuldig sind.“ Dazu müsste die etablierte Religion ihren Blick von der „Sündenempfindlichkeit“ abwenden und die „Leidempfindlichkeit“ in den Mittelpunkt rücken.

Text: Pater Dr. Fidelis Regi Waton SVD
Foto: Eduardo Silva de Sousa SVD

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