In den großen Zusammenhang

06. Feb 2021

Als „Gutes Leben“ verstehen indigene Kulturen in Ecuador das Gelingen von Beziehungen, erläuterte Dr. David Cortez im Vortrag der Akademie Völker und Kulturen.

In Ecuador wurde 2008 eine neue Staatsverfassung angenommen, in der der indigene Begriff des „Guten Lebens“ – „sumak kawsay“ in der ecuadorianischen Kichwa-Sprache – eine wichtige Rolle spielt. Der ecuadorianische Philosoph und Sozialwissenschaftler Dr. Cortez beschäftigt sich mit der Herkunftsgeschichte des Begriffs und fragt in seinem philosophischen Zugang danach, welche Inhalte sich damit verbinden. Diese Genealogie des Begriffs erläuterte er in seinem Vortrag in der Akademie Völker und Kulturen am Abend des 5. Februar in einem on-line-Forum.

Mit sumak kawsay ist das „Leben in Fülle“ gemeint, das umfassend die Gemeinschaft mit Menschen, das gute Zusammenleben mit der Natur und die Einbettung in den Kosmos meint. Für die Indigenen im Hochland und Amazonasgebiet Ecuadors geht in diesen Beziehungen um das Zusammenleben mit Menschen, aber genauso kann man mit einem Berg oder Fluss in Beziehung treten. Damit wird die ganze Welt in gewisser Weise beseelt und der Mensch fügt sich in ein größeres Miteinander.

Dieser übergreifende Zusammenhang wird durch das Prinzip der Relationalität sowie der Reziprozität gestaltet, der Gegenseitigkeit, sodass jeder gibt und empfängt. In dieser Sicht wird verständlich, dass Armut als Bedürftigkeit unverständlich und sinnlos ist, weil ja die Natur und Welt allen ihren Teil geben will und das Leben aller sichert. Diese Prinzipien finden in den indigenen Gemeinschaften Ausdruck, wenn sie gemeinsam arbeiten („minga“), ihre Feste feiern und im Tanzen. Einen individuellen Tanz kann man sich gar nicht vorstellen, erläuterte Dr. Cortez, denn Tanzen hat immer einen Gemeinschaftsbezug und ist eine spirituelle Angelegenheit, in der die Welt ins Gleichgewicht kommt. Sumak kawsay kommt also vor allem von einer traditionellen Lebenspraxis und ist nicht nur eine theoretische Vorstellung oder ein politischer Diskurs.

Auf diese Weise wird verständlich, dass das Prinzip von sumak kawsay als scharfe Absage und Widerspruch gegen eine neoliberale Gesellschaftspolitik verstanden werden muss, die auf individuelle Gewinnmaximierung und Ausbeutung der Natur angelegt ist. Die Vorstellung von sumak kawsay wurde denn auch als Kritik angesichts des offensichtlichen Scheiterns der neoliberalen Politik in Ecuador formuliert und von den indigenen Organisationen in die Gesellschaft und Politik eingeführt, bis hin in die 2008 neu formulierte Staatsverfassung. Im Vortrag erläuterte Dr. Cortez verschiedene Phasen und Entwicklungsschritte in der Interpretation von sumak kawsay. Es geht also nicht um eine feststehende Kategorie, die aufgegriffen wurde, sondern das Verständnis von sumak kawsay wird von unterschiedlichen sozialen Gruppen verschieden interpretiert.

Eine ähnliche Entwicklung gab es in Bolivien. Auch dort wurde um 2009 eine neue Verfassung angenommen, die indigene Vorstellungen aufgriff, aber mehr auf Plurinationalität setzte und so mit der Vielfalt des Landes umgehen wollte. In Ecuador wurde hingegen mehr auf sumak kawsay gesetzt. Allerdings wäre noch die Frage, wie die Umsetzung dieses Begriffs in der ecuadorianischen Politik gelungen ist – ein Thema, dem Dr. Cortez in seinem Vortrag nicht nachging.

Bei sumak kawsay geht es darum, als Mensch eingebettet in eine Gemeinschaft zu leben und die Beziehungen zum Mitmenschen, zur Natur, zum Kosmos und zu Gott so zu gestalten, dass das Leben zu seiner Fülle gelangen kann.

Christian Tauchner SVD

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