Gebetsmeinung des Papstes im Januar

Januar 2022

Für echte menschliche Brüderlichkeit

Wir beten für alle, die unter religiöser Diskriminierung und Verfolgung leiden; ihre persönlichen Rechte mögen anerkannt und ihre Würde geachtet werden, weil wir alle Schwestern und Brüder einer einzigen Familie sind.

Ich habe ziemlich genau Anfang dieses Jahres eine Frau kennen gelernt, deren Familie aufgrund religiöser Verfolgung aus dem Heimatland fliehen musste. Ihre Volksgruppe, die Armenier, sind die Opfer des ersten systematischen Genozids des 20. Jahrhunderts.

Als sie und ihre Familie geflohen sind, war sie vier Jahre alt. Die erste groß angelegte Ausrottung ihrer Volksgruppe lag ungefähr ein halbes Jahrhundert zurück. Wenn sie über ihre Flucht berichtet, dann ist sie erstaunlich ruhig und sachlich. Hat sie unter ihren Zuhörern Menschen, die aus ihrer Heimat Türkei stammen, wird sie nicht selten beschimpft, und als Verräterin und Lügnerin scharf angegriffen. Wenn sie sagt, dass sie Armenierin ist, dann gibt es bis auf ganz wenige Ausnahmen immer dieselbe Reaktion: Die Leute drehen sich von ihr weg, und verbieten den Kindern mit ihr zu reden. Auch dieses Jahr ist ihr das schon mehrfach passiert. Ausnahmen sind leider selten.

Wie geht diese Frau damit um? Wie verhält sie sich Menschen gegenüber, die den Genozid leugnen? Wie verhält sie sich Menschen gegenüber, die zu der Volksgruppe gehören, vor denen ihre Familie fliehen musste?

Wenn sie auf Menschen aus ihrem Heimatland trifft, ist sie höflich und bietet immer wieder ihre Hilfe an, das habe ich selber mehrfach beobachten können. Sie leugnet ihre Herkunft nicht. Sie trägt die soziale Verachtung mit Fassung. Manchmal kann man ein wenig Resignation erkennen, aber ich habe zahllose Situationen beobachten können, in denen sie sich wirklich christlich verhalten hat. Sie jedenfalls leistet ihren Beitrag, um die Spirale von Gewalt und Diskriminierung zu beenden.

Unser Papst bittet uns in diesem Monat um Gebet für diejenigen, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt und diskriminiert werden, dass ihre Würde und ihre Rechte geachtet werden. Ein Blick in die Realität zeigt: Dieses Gebetsanliegen ist mit menschlichen Möglichkeiten nicht umsetzbar. Es ist ein zutiefst menschliches Verhalten, und das zeigt die wissenschaftliche Forschung immer wieder, dass Menschen andere Menschen dämonisieren, ausgrenzen, zu Feindbildern erklären, einfach nur weil sie anders sind, oder anders denken, oder anders glauben. Dazu muss man nicht erst auf den Bereich des Transzendenten blicken - alleine das Aufeinandertreffen von Fans unterschiedlicher Fußballklubs kann zu körperlichen Auseinandersetzungen und massiven physischen Gewaltausbrüchen führen, ohne das eine von beiden Gruppen auch nur einen Funken Reue empfindet.

Vor ungefähr 400 Jahren wurde die Menschenwürde zum ersten Mal zu einem umfassenden philosophischen Konzept ausformuliert. Heute ist sie einer unserer Grundpfeiler im Grundgesetz. Wird sie deshalb beachtet? Können wir wirklich sagen, dass wenigstens bei uns die Würde eines jeden Menschen respektiert wird, dass niemand verfolgt oder diskriminiert wird?

Ein Blick in die Schlagzeilen der letzten Wochen lässt nur eine Antwort zu, nämlich nein. Abfällige, diskriminierende, verachtende Kommentare über Menschen, die jeweils anders denken als man selbst, und nicht so handeln wie einige meinen das sie handeln sollten, finden kein Ende, und gehen durch sämtliche sozialen Schichten. Die verbalen Ausgleisungen nehmen überhaupt kein Ende.

Es hat den Anschein, dass es für manche Menschen eine unerträgliche Zumutung ist "Andersdenkende" zu akzeptieren. Irgendwie endet es fast immer in Diskriminierung und Verfolgung der "Andersdenkenden." Und wie wir aktuell erleben können, funktioniert das auch bei medizinischen Themen, es genügt, wenn etwas, das nichts mit Moral zu tun hat, zu einer moralischen Haltung künstlich aufgebläht wird, und schon prügeln die Leute verbal aufeinander ein.

Trifft der Mensch auf Menschen mit einer anderen Haltung, anderen Werten, anderen Weltansichten, dann scheint das eine unerträgliche Provokation zu sein, die Beteiligten werden wütend, die Aggression nimmt zu, Menschen werden ausgegrenzt - und für alles gibt es ein moralisches, manchmal auch religiöses Argument.

Kann es da noch irgendeinen überraschen, wenn bei einem so sensiblen Thema wie Religion Verfolgungen und Diskriminierungen Andersgläubiger auftreten? Wenn es um religiöse Fragen geht, dann sind die Menschen besonders empfindlich, dann ist die Stimmung noch aufgeheizter, dann gibt es nicht nur moralische, sondern auch religiöse Argumente für das Handeln und die Motivation.

Warum ist das so? Warum gehen so viele Menschen in die Aggression, wenn sie auf Menschen treffen, die andere Standpunkte vertreten, die anders handeln, anders beten, anders glauben?

Um dieses Problem zu lösen, braucht es mehr als "nur" Gespräche und Bildung, Aufklärung und kluge Projekte. Um das Herz und das Denken von Menschen zu verändern, braucht es das Gebet. Nur Gott ist in der Lage hier etwas zu verändern. Darum brauchen wir das Gebet, damit Menschen nicht länger wegen ihres Glaubens diskriminiert werden. Also beten wir. Viel zu oft wurden Menschen aufgrund ihres Glaubens verfolgt, und es liegt in der Hand von uns Betern, weitere Verfolgungen zu verhindern.

Simone Nefiodow, Dipl. Theologin

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