Juli 2015
Für die Christen Lateinamerikas, dass sie dort, wo soziale Ungerechtigkeit herrscht, durch ihre Liebe zu den Armen zu einer geschwisterlichen Gesellschaft werden.
Selig der Mensch, der den Parolen der Partei nicht folgt
und an ihren Versammlungen nicht teilnimmt,
der nicht mit Gangstern an einem Tisch sitzt
noch mit Generälen im Kriegsgericht.
Selig der Mensch, der seinem Bruder nicht nachspioniert
und seinen Schulkameraden nicht denunziert.
Selig der Mensch, der nicht liest, was die Börse berichtet
und nicht zuhört, was die Werbung sagt,
der ihren Schlagworten misstraut.
Er wird sein wie ein Baum, gepflanzt an einer Quelle.
(Psalm 1 nach Ernesto Cardenal)
Im Kontext der lateinamerikanischen Gesellschaft ist die Liebe zu den Armen ein zentraler Begriff der Kirche und ein Zauberwort, das groß geschrieben wird und in aller Munde kursiert. Gemeint ist damit eine Option für die Armen, d.h. eine vorrangige Zuwendung zu den gesellschaftlich benachteiligten Bevölkerungsschichten, also eine Haltung, die mehr als tätige bzw. caritative Liebe bedeutet. Terminologisch werden aber beide Stichworte „Liebe“ und „Option“ oft genug verwechselt und leider im Alltag auch so verstanden und teilweise tendenziell praktiziert. Die Option ist ein umfassendes Programm und eine Lebenseinstellung hinsichtlich einer Verbesserung der Lebensumstände der Person des Armen in seiner Ganzheit. Die Liebe aber als tätig-caritativ sporadische oder dauerhafte Äußerung gilt sowohl den „Reichen“ als auch den „Armen“. Beide sind zwar nicht gegeneinander auszuspielen. Dennoch steht im lateinamerikanischen Kontext die „Option“ für die Armen im Vordergrund, die aber eine geschwisterliche Liebe und Solidarität impliziert. Mit Liebe ist nicht immer eine „Option“ für die Armen gemeint. Zu groß ist die Gefahr, die Liebe zu den Armen mit einer „Wohltätigkeit“ zu verwechseln, wobei sie den Armen in seiner Position des Armen, des Empfangenden und des Objektes belässt, ohne ihn als Subjekt des gesellschaftlichen Mit-tuns einzubeziehen. Damit bleibt der Arme einer geschwisterlichen Gesellschaft fern. Gerade diese Abhängigkeit will die „Option“ für die Armen durch eine gesellschaftliche Veränderung beenden. Dieser gesellschaftliche Wandel ist ein Ziel, das die Basisgemeinden und die befreiungstheologischen Ansätze seit mehr als fünfzig Jahren in Lateinamerika verfolgen. Wo Christen, einschließlich Priester und Bischöfe, von ihrer „Liebe“ zu den Armen zu einer „Option“ für die Armen kommen, da verändert sich etwas in ihrem eigenen Leben, was die Bereitschaft zur „Selbsthingabe“ des eigenen Lebens, des Martyriums nicht ausschließt. Ein konkretes Zeugnis von Solidarität mit den Armen ist der kürzlich seliggesprochene Oskar Romero.
Oskar Romero wurde nicht wegen seiner „Liebe zu“ den Armen, sondern aufgrund seiner „Solidarität mit“ den Armen umgebracht. Zahlreich waren jedoch viele Christen, einschließlich Katecheten, Priester und Bischöfe, die ihre „Liebe“ zu den Armen gepflegt haben, ohne dabei erschossen zu werden. Die „Solidarität“ ist im lateinamerikanischen Kontext immer ein gesellschaftliches Projekt. Nicht zu vergessen sind hunderte Katecheten, die ungerechtfertigt drangsaliert oder sogar ermordet wurden, einfach weil sie die Bibel bei sich trugen. Das zeigt die Ernsthaftigkeit und die Dramatik der Lage: wer eine Bibel trug, der wurde verdächtigt, die Gesellschaft verändern zu wollen. Die Option für die Armen ist nämlich im biblischen Gottesbild und Menschenbild verankert und gilt für die Befreiungstheologie und die Basisgemeinden als theologisches Prinzip und Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns. Während Exodus (2Mose) 23,6 davor warnt, im Gericht das Recht des Armen zu beugen, preist Psalm 35,10 Gott selbst als deren Beschützer. Das Auftreten von Papst Franziskus an verschiedenen Orten (unter anderem sein Besuch in Lampedusa und in Gefängnissen), zeigt, wie sehr der gebürtige Argentinier selber von dieser Bewegung der „Option für die Armen“ geprägt ist. Als Jesuit versteht es sich für Franziskus, dass im Armen Christus selbst anwesend ist, und dass dort echter Christusdienst zu geschehen hat.
Mit dieser Einladung zum Gebet für eine geschwisterliche Gesellschaft will Papst Franziskus bewusst machen, dass eine solche Gesellschaft nicht nur eine Problematik des lateinamerikanischen Kontinentes, sondern eine weltweite Angelegenheit ist, die ein Umdenken und eine Veränderung jedes einzelnen Christen fordert. In unserem Gebet für Lateinamerika werden wir als Beter daran erinnert, dass ein gesellschaftspolitisches Engagement von allen Christen erwartet wird, zwar nicht in einem fundamentalistischen Sinne, aber doch getragen von der Hoffnung hic et nunc (hier und jetzt) zu handeln.