01. Jul 2006
Wir beten für alle Gefangenen, insbesondere für die jungen Menschen, dass sie durch die Gesellschaft Hilfe erhalten, dem eigenen Leben wieder einen Sinn zu geben.
"Er hat mich gesandt, damit ich ... den Gefangenen die Entlassung verkünde" - das gehört zum fundamentalen Programm Jesu in der Synagoge von Nazareth (Lk 4,18). Das vierte Hochgebet greift dieses Wort auf (,, ...den Gefangenen Freiheit").
Es fiele schwer, dieses Wort heute zum Programm der Gefängnisseelsorge oder der christlichen Gemeinde zu machen. Doch wenn wir an China denken, wo Priester jahrelang, ja jahrzehntelang unschuldig in Haft sitzen -, wenn wir an Guantanamo denken, wo Gefangene ohne Anklage festgehalten und unmenschlich behandelt werden -, wenn wir uns an Abu Greip in Bagdad erinnern, wo die Insassen von ihren Wärtern verhöhnt und erniedrigt werden, dann erhält jenes Wort Jesu wieder seine befreiende Kraft. Seine Jünger sollen wie er "den Gefangenen Freiheit" bringen.
Das Gefängnis - ein Fünf-Sterne-Hotel
Doch wie steht es hierzulande? Ein belgischer Journalist besuchte ein Gefängnis in Ruanda, in dem himmelschreiende Zustände herrschten. Als er den Gefangenen erzählte, dass es in europäischen Gefängnissen Duschen, bequeme Sessel, Erfrischungen und Fernsehen gäbe, schlugen die sich auf die Schenkel. "Aber das ist kein Knast", riefen sie, "das ist ein Fünf-Sterne-Hotel!".
Ist das nicht wahr? Viele glauben, dass die Strafgefangenen in unserem Land ein recht bequemes Leben führen. Sie kosten die Gesellschaft eine Unmenge Geld und haben viele Annehmlichkeiten des modernen Lebens - außer der Freiheit. So dass einem, wie dem Obdachlosen in dem Film "Im Kittchen ist kein Zimmer frei" das Gefängnis als ein warmer und trockener Ort erscheinen mag, in dem man den kalten Winter verbringen kann.
Als Häftling auf Urlaub in der Karibik
Besonders, seit in den letzten Jahrzehnten viel vom humanen Strafvollzug gesprochen wird. Seit die Idee der Strafe und Sühne immer mehr aus der Rechtsprechung verbannt wird und dem Gedanken der Resozialisierung Platz macht. Bis hin zu der Tatsache, dass ein jugendlicher Straftäter, statt im Gefängnis zu sitzen, auf Staatskosten mit seinem Betreuer eine Urlaubsreise in die Karibik macht, weil das Früchtchen dadurch gebessert werden soll.
Unerhört? So dachte ich auch. Aber man versichert, eine solche Reise sei weniger kostspielig als die entsprechende Zeit hinter Gittern zu verbringen. Und außerdem sei die Besserungsrate höher. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Aber wahr ist, dass die Haft für viele keine Besserung bringt, sondern dass sie dort erst recht verdorben werden. Der Umgang mit anderen Straftätern, die damit protzen, dass sie wieder "ein Ding gedreht" haben, die Gewalt gegen Schwächere, auch sexuelle Gewalt - dies alles führt dazu, dass die Verurteilten häufig schlechter aus der Haft herauskommen als sie hineingegangen sind. Und entsprechend häufiger rückfällig werden. Da sollte doch der Grundsatz gelten: was die Häftlinge wieder auf den guten Weg bringt, das sollte Präferenz haben - auch wenn es ausgefallene Ideen sein mögen.
Sorge für Kühe und Hühner
Was könnte das sein? Vor einiger Zeit besuchte ich am Tag der offenen Tür das nahe gelegene Jugendgefängnis. Wir sahen den sauberen und wohnlichen Essraum. Die jugendlichen Häftlinge sind in Gruppen eingeteilt, in denen jeder seine bestimmte Aufgabe hat. Tischdienst, Bodenreinigung, Spülen und was es da zu tun gibt: jeder hat seine Aufgabe, und wenn er die nicht erfüllt, schadet er der ganzen Gruppe und wird von der Gruppe zurechtgewiesen. So lernt man etwas ganz Wichtiges: Verantwortung für die Gemeinschaft.
Die Landwirtschaft des Missionshauses, wo ich wohnte, war an die Justizvollzugsanstalt in der Nähe verpachtet. Wir begegneten täglich den Häftlingen, die die Kühe und Hühner versorgten, den Traktor fuhren und die Ernte einbrachten. Sie konnten relativ frei arbeiten, aber kaum je ist einer entlaufen. Sie wurden ja sowieso bald entlassen, und die Flucht hätte nur eine neue Haftverschärfung eingebracht. Die Arbeit auf freiem Feld, die Sorge für das Leben der Tiere tat den Häftlingen gut. Sie halfen gern, wenn der Gärtnerbruder oder ein anderer sie um Hilfe bat, und man fragte sich manchmal, ob diese freundlichen und höflichen jungen Männer wirklich Kriminelle waren, die wegen einer Straftat einsaßen. Hier schien, so weit ich urteilen konnte, die so oft beschworene Resozialisierung geglückt.
"Gott schenkt dir einen Neuanfang"
"Dem eigenen Leben wieder einen Sinn zu geben", darum beten wir. In der Sorge für Lebendiges, in der Verantwortung für die Gemeinschaft erfahren die Häftlinge einen unmittelbaren Sinn. Doch der christliche Glaube kann noch tiefer ansetzen. Auch wenn im Gespräch mit Häftlingen die eigene Schuld ein delikates Thema ist und vor anderen häufig abgestritten wird, so kommen doch Stunden, wo sie sich selbst gegenüber mit ihrer Schuld konfrontiert sind, wo sie an der Stigmatisierung durch die Gesellschaft leiden. Das ist die Zeit, wo der Gefängnisseelsorger oder ein anderer ihnen sagen kann: Keine Schuld ist so groß, als dass Gott sie nicht vergeben könnte. Gott vergibt dir, was auch immer du getan hast. Er schenkt dir einen neuen Anfang.
Im Mittelpunkt steht also die frohe Botschaft von der umfassenden Liebe Gottes und seiner Barmherzigkeit. Wenn die Häftlinge die Verdrängung ihrer Schuld ("Die anderen sind ja auch nicht besser. Ich bin halt bloß erwischt worden!") aufgeben, wenn sie Gottes Vergebung annehmen, dann kann der Neuanfang mit einem neuen Sinn des Lebens gelingen.
Karl Neumann SVD, Kommentar zur Allgemeinen Gebetsmeinung Juli 2006
aus der Zeitschrift "Die Anregung", Ausgabe 4/2006, Steyler Verlag, Nettetal