12. Sonntag im Jahreskreis (A)

Predigtimpuls

Der ganze Mensch ist Gottes Ebenbild

1. Lesung: Jer 20,10-13
2. Lesung: Röm 5,12-15
Evangelium: Mt 10,26-33

„Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können …“ So hören wir im Evangelium. Was bedeutet diese Unterscheidung von Leib und Seele? Ist nicht der ganze Mensch Abbild Gottes? Glauben wir nicht an ein „leibhaftiges“ Heil aller Menschen, wie Johann Baptist Metz es ausdrückt?
Die Bibel will uns keine Lehre vom Menschen vermitteln, sie ist ein Glaubensbuch. Die Wurzeln unseres christlichen Glaubens liegen im Alten Testament, das mit „Leib“ und „Seele“ immer den ganzen Menschen, aber unter verschiedener Rücksicht meint. Der Hauch Gottes, seine schöpferische Kraft macht Leib und Seele lebendig. Beim Tod des Menschen verlässt die Seele nicht den Leib, sondern der ganze Mensch stirbt.
Leib und Seele drücken die ganze Persönlichkeit aus. Von der Ganzheit des Menschen, durch die er in eine enge Beziehung zu Gott tritt. Ist auch die Rede in dem Morgen- und Abendgebet, das Juden täglich beten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dtn 6,4) Was in fast allen Übersetzungen mit “Seele“ wiedergegeben wird, ist das hebräische Wort „Nefäsch“, das heißt Kehle. Im Denken der Hebräer wurden mit dem Organ gleichzeitig auch dessen Tätigkeiten und Fähigkeiten mitbezeichnet. Kehle ist daher nicht nur das sichtbare Organ, sondern auch die Kraft, die atmen, rufen, schreien, Nahrung und Wasser aufnehmen, sprechen, singen usw. lässt. Sie ist das Symbol des bedürftigen, begehrenden Menschen. Als solchen hat Gott den Menschen erschaffen. Diese Nefäsch-Artigkeit des Menschen bedeutet, dass wir von allem Anfang an ganz auf andere und auf Beziehung angelegt sind.

Leib und Seele im christlichen Glauben
Das heutige Evangelium verwendet das Wort „Psyche“ und damit den griechischen Begriff von Seele, der sich mit der hebräischen Vorstellung von „Nefäsch“ nicht vergleichen lässt.
Ursprünglich war „Psyche“ bei den Griechen ein lautmalerischer Begriff für den Hauch, den hörbaren und sichtbaren Atem; ähnlich wie das indische Wort „Atman“, das unserem „Atem“ verwandt ist.
Prägend für unser abendländisches Denken und dadurch auch für das Verständnis von „Seele“ wurden die von griechischen Philosophen entwickelten Lehren. So wurde die „psyche“ zum Inbegriff des Individuums, eine Wesenheit quasigöttlicher Natur, die bereits vor der Geburt eines Menschen und nach seinem Tod, unabhängig von seinem Körper existiert.
In der Lehre der sogenannten “Vorsokratiker“ spielte die Seelenwanderung eine Rolle. Man glaubte, dass die Seele aus einer ursprünglichen Einheit aller Seelen zur Strafe für frühere Vergehen im Leib wie in einem Grab begraben sei. Dadurch haben uns die griechischen Philosophen nicht nur die Spaltung von Leib und Seele. Sondern auch die Verachtung für den Leib als Erbe hinterlassen. Der Leib als Gefängnis oder Grab der unsterblichen und viel wertvolleren Seele musste von ihr beherrscht werden.
Unser westlich-abendländisches Menschenbild krankt oft an dieser Spaltung von Leib und Seele, die durch die griechischen Philosophen grundgelegt wurde. Ist es da ein Zufall, wenn Ideen von Seelenwanderung und Reinkarnation heute Hochkonjunktur haben?
Woher dieses Gedankengut auch stammt, ob aus dem Hinduismus oder dem Buddhismus, in keiner Religion ist die Wiedergeburt etwas Erstrebenswertes. Sie ist ein Schicksal, dem man zu entrinnen sucht. In Westeuropa ist die Reinkarnation für die Mitglieder der Wohlstandsgesellschaft Hoffnung und Zuflucht, da sie den Gedanken an die Vergänglichkeit des Lebens und des darin angehäuften Reichtums nicht ertragen können. Angesichts des Bruchstückhaften und der Gebrochenheit des Lebens tröstet die Hoffnung auf eine nochmalige Chance. Und vielleicht kann man im nächsten Leben wieder über das bereits Erworbene verfügen.
Zum Kern der Botschaft des Evangeliums gehört der Glaube an die Auferstehung des Fleisches, nicht nur der Seele. Jesus ist Mensch geworden und durch sein Handeln zeigt sich Gottes Liebe zu allen Menschen. Im Neuen Testament gibt es zahlreiche Berichte von Totenerweckungen und Krankenheilungen. Meistens sind sie mit Berührungen Jesu verbunden und haben sichtbare gesellschaftliche Folgen. Für die Geheilten eröffnen sie neue Chancen, ermöglichen sie neue soziale Beziehungen.
Im Kontext dieser Erzählungen müssen wir auch die Worte „Leib“ und „Seele“ im heutigen Evangelium verstehen. Jesus will seinen Jüngern und Jüngerinnen Mut machen. „Fürchtet euch nicht!“ Menschen haben nur beschränkte Macht über euch, trotz aller Grausamkeiten, die sie euch antun können. Selbst wenn sie euch töten, können sie eurer Hoffnung auf die endgültige Vollendung des Lebens im Reich Gottes nichts anhaben. Diese unzerstörbare Hoffnung macht euren eigentlichen Wert aus. Sie macht euch fähig, gegen jede Ungerechtigkeit und Unterdrückung von Menschen aufzutreten. Auch dann noch Widerstand zu leisten, wenn euch Nachstellungen, Verleumdungen und Verfolgung drohen: Denn die Botschaft Jesu ist und bleibt eine Provokation.

[Anmerkung der Redaktion: Die von Fr. Fessler verfasste Predigt wurde bereits veröffentlicht in: DIE ANREGUNG, Nettetal 1996; S. 240f]

Eva Fessler

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