Wie kommt Maria in den Himmel?

Besinnung

Wie ist Maria gestorben? Das wusste im 4. Jahrhundert niemand mehr - und doch interessierte es viele! So entwickeln sich allmählich Vorstellungen und Legenden über ihren Tod und was danach geschah, über den Transitus Mariae. Eines war dabei klar: Maria war so rein, so heilig … ihr Körper konnte nicht im Grab verwest sein!

1. Lesung: Offb 11,19a; 12,1-6a.10ab
Evangelium: Lk 1,39-56

Weder über die Geburt Marias noch über ihren Tod erfahren wir irgendetwas aus den Schriften des Neuen Testaments. Während die apokryphe Überlieferung über Marias Geburt und Vorgeschichte dann schon relativ bald, nämlich im 2. Jh., mit dem sogenannten Protevangelium des Jakobus einsetzt, dauert es noch wesentlich länger bis zu ersten Nachrichten über ihren Tod. Der Kirchenvater Epiphanius von Salamis schreibt noch am Ausgang des 4. Jh., dass er über das Ende Marias überhaupt nichts weiß. Seines Erachtens gibt es verschiedene Möglichkeiten: Maria könnte einfach gestorben und begraben worden sein, vielleicht sogar als Märtyrerin – er erschließt dies aus dem in Lk 2,35 erwähnten Schwert, das ihre Seele durchbohren werde –, oder sie könnte auch am Leben geblieben sein, da bei Gott nichts unmöglich sei (Panarion 78).

Chaos in der Überlieferung – Ratlosigkeit in der Forschung
Die ersten Textzeugen, die sich genauer zum Marientod äußern, gibt es erst gegen Ende des 5. Jh. Und hier beginnen auch die massiven Schwierigkeiten der Forschung, die damit zusammenhängen, dass die Textüberlieferung man nennt diese Schriften Transitus-Mariae-Literatur – extrem uneinheitlich und fragmentiert ist. Es gibt Texte (oder Teile davon) in diversen antiken Sprachen (darunter syrisch, griechisch lateinisch, koptisch, äthiopisch, georgisch, armenisch und altirisch) – und ihr jeweiliger Inhalt ist insgesamt so unterschiedlich, dass es der Forschung bislang nicht gelungen ist, eine allgemein überzeugende Entwicklungsgeschichte der Überlieferung zu rekonstruieren.

Bei Gregor von Tours (gest. 594) findet sich folgende kurze Zusammenfassung einer Version der Geschichte:

»Anschließend verteilten sie sich [gemeint sind die Apostel nach der Auferstehung] in verschiedene Gegenden, um das Wort Gottes zu verkündigen.

Als schließlich die gesegnete Maria ihren Lebenslauf vollendet hatte und von dem Zeitlichen werden sollte, versammelten sich alle Apostel aus den verschiedenen Gegenden in ihrem Haus. Sowie sie nun hörten, dass sie von der Welt bald weggenommen würde, wachten sie mit ihr alle zusammen. Und siehe, der Herr Jesus kam mit seinen Engeln, er nahm ihre Seele auf und gab sie dem Engel Michael und ging weg.

Bei Tagesanbruch aber erhoben die Apostel ihren Körper mit dem Lager und legten ihn in ein Grabmal und bewachten ihn, die Ankunft des erwartend.

Und siehe, der Herr stand wieder bei ihnen und nahm den heiligen Körper in eine Wolke auf und ließ ihn ins Paradies bringen, wo sie nun, bei wiederaufgenommener Seele mit seinen Auserwählten sich freuend, die unvergänglichen Güter genießt.“ (In Mart. 45 PL 71,798)

Diese kurze Version der Geschichte ist allerdings nur eine Version von vielen – und auf verschlungenen Wegen von älteren Textzeugen abhängig. Die diversen Zeugnisse aus früheren Zeiten lassen sich insgesamt in vier unterschiedliche Gruppen einteilen:
1. In einer Gruppe von Texten gibt es eine Überlieferung, in der Maria neben ihrem Haus in Jerusalem noch ein weiteres Haus in Betlehem besitzt, wo einige der Szenen vor ihrem Tod spielen.
2. Eine andere Textgruppe zeichnet sich durch eine vorgeschaltete Geschichte aus, in der Maria von einem Engel oder von Christus (oder auch von einem Engel, der sich dann als Christus herausstellt) ihr eigener Tod angekündigt wird. Dabei wird ihr ein Palmzweig überreicht.
3. Daneben gibt es eine Gruppe von koptischen Texten, die im Vergleich mit den beiden genannten Gruppen eigene Wege gehen,
4. sowie noch eine Reihe von Texten, die sich keinem der bislang erwähnten Überlieferungsstränge zuordnen lassen.

Relativ konstant ist in den unterschiedlichen Textzeugnissen davon die Rede, dass sich mehrere oder alle Apostel (inklusive Paulus) an Marias Sterbebett versammeln – zumeist werden sie vermittels verkehrstüchtiger Wolken aus den verschiedenen Weltgegenden dorthin transferiert. Zudem ist es auch ein zentraler Teil der Überlieferung, dass Christus erscheint, um Marias Seele abzuholen.

Diese beiden Motive sind ein fester Bestandteil der östlichen, dann byzantinischen Darstellung geworden, wie sie sich auf zahlreichen orthodoxen Ikonen findet und dann auch die westliche Bilddarstellung beeinflusst hat.

Was geschieht mit Marias Körper?
Während das Erscheinen Christi zur Abholung der Seele Marias ein konstantes Element der Überlieferung darstellt, gibt allerdings beträchtliche Differenzen im Hinblick auf das Schicksal ihres Körpers. Und an dieser Stelle beginnt auch das dogmatische Problem, das dann die Forschung nachhaltig beeinflussen sollte. Offiziell wurde nämlich 1950 von Seiten der römisch-katholischen Kirche in der apostolischen Konstitution Munificentissimus Deus („Der unendlich freigiebige Gott“) die Aufnahme Mariens mit Leib und Seele in den Himmel dogmatisiert (vgl. Kasten$. 32). Dies hat im Umfeld der Dogmatisierung dazu geführt, die frühchristlichen Überlieferungen verstärkt nach alten Belegen für das Dogmatisierte zu durchsuchen.

In der katholisch geprägten Wissenschaft gibt es dabei vor allem zwei Tendenzen: Einige versuchen, die Textüberlieferung so zu rekonstruieren, dass Texte mit einer auch leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel als möglichst früh klassifiziert werden, um so die alten Ursprünge des Dogmas zu belegen. Komplizierter ist eine andere Variante, die davon ausgeht, dass es so etwas wie eine Entwicklung hin zu einer größeren dogmatischen Wahrheit gegeben habe: Die älteren Texte sind dann die, die nur von einer Entschlafung Mariens (lat. Dormitio, griech. Koimesis) erzählen. Anschließend habe sich die Tradition dahingehend entwickelt, dass schließlich auch die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel (lat. Assumptio) festgestellt worden sei. Als Krönung dieser Entwicklung lässt sich in dieser Sichtweise die Dogmatisierung im 2o. Jh. sehen.

Bei näherem Hinsehen leisten die antiken Texte allerdings beharrlichen Widerstand gegenüber einer dogmatischen Klassifizierung nach neuzeitlichen Kriterien. Zunächst ist es so, dass Textzeugen aus allen unterschiedlichen Textgruppen ungefähr zur selben Zeit – nämlich gegen Ende des 5. Jh. – auftauchen und dabei nicht so aussehen, als hätten sie sich auseinander entwickelt. Dazu kommt, dass das postmortale Schicksal von Marias Körper sehr unterschiedlich dargestellt wird – und zwar auch innerhalb der verschiedenen Textgruppen.

Oft wird zwar erzählt, wie Marias Körper ins Paradies transferiert worden sei, aber das heißt nicht, dass er dort auch bleibt – oder gar, dass das Paradies einfach mit dem Himmel als finalem Ort des Aufenthalts der Seligen identisch wäre. In einigen Texten wird die Seele Marias, die sich zwischenzeitlich im himmlischen Bereich befunden hat, nach drei Tagen (manchmal auch nach längerer Zeit) mit ihrem Körper im Paradies wiedervereinigt, in anderen Texten ist es umgekehrt, d.h., die Vereinigung findet im Himmel statt – oder aber der Körper bleibt schlicht im Paradies, gedacht als eine Art „Zwischenlager“ für Verstorbene, um erst bei der endgültigen Totenauferstehung am Jüngsten Tag wieder reanimiert zu werden. In einer Reihe von Texten folgt am Ende der Erzählung dann noch eine Art Reise durch Himmel und Hölle, bei der Maria für die in der Hölle Gefolterten Fürsprache einlegt – und damit tatsächlich auch so weit Erfolg hat, dass diese eine sonntägliche Pause von den Höllenqualen erhalten.

Der Apostel Thomas kommt zu spät
Nebenmotive weiterer Textüberlieferungen bestehen noch darin, dass einer der Apostel, gerne ist dies Thomas (vgl. Joh 20,24-29), erst verspätet ankommt, nämlich z.B. drei Tage nach Marias Tod, und einen Beweis für die besonderen Ereignisse haben möchte. Daraufhin öffnen die versammelten Apostel das Mariengrab und finden es leer. Gelegentlich sind noch einige Kleider darin vorhanden – oder ein Gürtel fällt vom Himmel. Die Geschichte vom leeren Grab lässt sich aus der Perspektive des Reliquienkultes verstehen: Erklärt sie doch sowohl das Fehlen von Knochenreliquien Marias wie auch das Vorhandensein ihrer Kleidungsstücke, was später u.a. für Konstantinopel belegt ist (vgl. S. 22).

In relativ vielen Überlieferungen gibt es auch einen deutlich antijüdischen Zug: Während die Apostel die Bahre vom Haus der Maria in Jerusalem zu ihrem Grab tragen, haben „die Juden“ vor, ihren Leib zu verbrennen, woraufhin zahlreiche von ihnen erblinden sowie einer unter ihnen, der die Bahre ergreifen will, seine Hände einbüßt: Sie werden von einem Engel abgeschlagen (oder, alternativ, verdorren) und erst nachdem er sich zu Jesus Christus und Maria bekennt, wird er geheilt und kann seine Hände wieder benutzen. Zusätzlich spielt in diesen Versionen oft noch der Palmzweig (s. o.) eine Rolle, der vor der Bahre hergetragen wurde und dann dazu verwendet wird, die Erblindeten zu heilen – allerdings natürlich nur diejenigen, die zum Glauben gekommen sind.

Unter den verschiedenen Versuchen der Forschung, Ordnung in diese Vielfalt der Legendenbildungen zu bringen, scheinen mir jene arm aussichtsreichsten, die zwar davon ausgehen, dass sich verschiedene Textgruppen erkennen lassen (so etwa die Palmzweig-Überlieferungsgruppe sowie jene mit dem zusätzlichen Haus in Betlehem), aber keine dieser Textgruppen eindeutig an den Beginn der Überlieferung zu stellen ist (vgl. zur Begründung die Veröffentlichungen von Stephen J. Shoemaker). Auch ist eine Klassifizierung der Texte im Sinne des modernen Dogmas nicht weiterbringend: Die antiken Texte passen nicht zu den neuzeitlichen Kategorien. Was sie indes zeigen, ist eine große Freude am Erzählen, Ausschmücken und Variieren von Motiven.

Wieso wird all das über Maria erzählt?
Fragt man sich nach den theologischen Beweggründen hinter der Vielzahl von Transitus-Mariae-Überlieferungen, so lassen sich dennoch – mit der gebotenen Vorsicht – einige Grundideen ausmachen, die die Überlieferung geprägt haben:

• Zunächst ist dies die Überzeugung, dass Marias Leib nicht verwesen kann und darf. Dies konstatieren viele Texte, und es wird dabei immer wieder ein Bezug zu Marias Reinheit und Heiligkeit hergestellt. Marias Körper ist von einer so herausgehobenen Art, dass die Vorstellung, er könnte einfach postmortal verwest sein, undenkbar erscheint. Marias besondere Reinheit wird schon im Protevangelium des Jakobus betont, und auch die von der alten Kirche festgehaltene Vorstellung, sie sei Gottesgebärerin (griech. Theotkos) und immer Jungfrau gewesen (d.h. vor, während und nach der Geburt) dürfte hier eine besondere Rolle spielen. Später heißt es in der mittelalterlichen Legenda aurea im Ab­ schnitt ,,Von Mariae Himmelfahrt“:

„Ward auch deine heilige Seele auf natürliche Weise von dem Leibe getrennt, und der Leib der Erde übergeben, so verharrte er doch nicht im Tode und ward nicht aufgelöst in Verwesung:

Die beim Gebären ihre jungfräuliche Reinheit behielt, die hatte auch nach ihrem Tode einen unverweslichen Leib und führte ihn hinüber in ein besser und heiliger Leben, nicht vom Tode vertilgt, sondern lebend in alle Ewigkeit.“ (Übers. Benz, 1979, 603)

• Ein weiterer maßgeblicher Aspekt ist Marias Vermittlerrolle: Um Maria als Fürsprecherin zu haben, die sich in besonders bedrohlichen Lebenslagen anrufen lässt, muss sie in irgendeiner Form bei Gott, im himmlischen Bereich sein, um dort Fürsprache einlegen zu können. Und sie sollte dies nicht erst ab dem Zeitpunkt der generellen Totenauferstehung am Ende der Zeit sein, sondern schon jetzt – sonst wäre eine Bitte um Fürsprache in der Jetztzeit sinnlos. Auf die helfende Rolle Marias verweisen auch diverse Wundererzählungen in den Texten, die Marias Schutzfunktion betonen, und zwar sowohl für lebende Menschen als auch für solche, die sich schon in der Hölle befinden.

• Eine entscheidende Rolle für die Ausgestaltung der Überlieferungen dürfte vor allem die Volksfrömmigkeit spielen. Dies zeigt sich nicht nur in diversen Ausschmückungen der Texte, sondern lässt sich schon für den Anfang der Überlieferung vermuten. Interessanterweise sind nämlich schon vor dem Beginn der erhaltenen Textüberlieferung Ende des 5. Jh. Indizien für eine zunehmende Verehrung Marias zu finden. In Jerusalem und Umgebung gibt es alte Marienheiligtümer, deren Ursprünge sich archäologisch bis mindestens ins 5. Jh. zurückverfolgen lassen. Neben Kirchenanlangen am Weg zwischen Betlehem und Jerusalem, die legendarisch mit dem Rastplatz Marias auf dem Weg zur Geburt verbunden sind (Kathisma, griech. Für den Ort, wo sie sich hingesetzt haben soll, s. S. 23), ist besonders die alte Marien-Grabeskirche im Tal Joschafat (bei Getsemane) zu nennen. Die Kirche wurde immer wieder überbaut die derzeitige Fassade stammt aus der Kreuzfahrerzeit, gründet aber auf alten Katakomben, wohl aus dem 1. Jh., aus denen das Mariengrab ausgehauen ist.

In eine frühere Zeit als die apokryphen Textüberlieferungen verweist uns auch der schon erwähnte Epiphanius (Panarion 79): Er weiß nämlich nicht nur, dass er über Marias Tod nichts weiß, sondern berichtet auch von einer Gruppierung in Arabien, die es nach seiner Einschätzung mit der Marienverehrung übertrieben hat. Diese sogenannten Kollyridianerinnen heißen bei Epiphanius so, weil sie eine Kollyris, eine Art Brotfladen, zum Gedenken an Maria darbrachten und dann gemeinsam verspeisten. Epiphanius wirft ihnen übertriebene Verehrung bis zur Vergöttlichung Mariens vor, und verwendet dieses Beispiel für heftigste Polemik gegen Frauen im Allgemeinen sowie speziell gegen Frauen als Priesterinnen oder Lehrerinnen. Jenseits dieser Polemik verweisen die Nachrichten jedoch auf eine Frauengruppe des 4. Jh., die Maria mit speziellen Riten verehrt hat. Und es gibt eine Querverbindung zur frühen Textüberlieferung der Betlehem-Tradition, da auch dort von einem Brotopfer im Zusammenhang mit Maria die Rede ist. Damit lässt sich für diesen Teil der Tradition mindestens eine Vorgeschichte im 4. Jh. annehmen.

Die genannten Indizien verweisen darauf, dass schon etliche Zeit vor unseren ersten Textzeugnissen liturgische Praktiken und Rituale, Kultstätten sowie damit verbundene Legenden existiert haben dürften. Eine Entstehung solcher Marienfrömmigkeit jenseits der offiziellen Theologie würde auch erklären, dass die Traditionen – sobald sie die Schwelle des uns noch Zugänglichen erreichen – schon so divers sind, sich eine klare Entwicklungsgeschichte nicht mehr feststellen lässt. Möglicherweise sind in ihnen auch Elemente lokaler vorchristlicher Göttinnenverehrung aufgegangen, auch wenn eine solche Verbindung von offizieller katholischer Seite nicht gern zugegeben wird. Die Dogmatisierungen können aus dieser Perspektive auch als ein Versuch gelesen werden, volkstümliche Marienverehrung zu begrenzen, zu kanalisieren und zu domestizieren.

Aus: WUB 4/2019 S. 28-33
Mit freundlicher Genehmigung des Katholischen Bibelwerkes vom 12.03.2020


Prof. Dr. Silke Petersen ist außerplanmäßige Professorin für Neues Testament an der Universität Hamburg. Schwerpunkte ihrer Veröffentlichungen sind unter anderem die apokryph gewordenen Schriften des frühen Christentums, Maria aus Magdala, das Johannesevangelium und Genderfragen. Derzeit Arbeit an der Herausgabe des Bandes über „Antike christliche Apokryphen“ der Reihe „Die Bibel und die Frauen“, vgl. www.bibleandwomen.org/DE

Prof. Dr. Silke Petersen

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