16. Apr 2024
Psalm 10
Psalm 10 stellt zwei Gruppen von Menschen einander gegenüber, die „Frevler“ und die „Armen“. Von Gott wird dringlich erbeten, sich auf die Seite der Armen zu stellen. Auch uns fordert der Psalm auf, Partei zu ergreifen. Den Skandal, dass es beide Gruppen in unserer Welt gibt, kann nur ein Ignorant leugnen.
Psalm 10
1 Warum, HERR, bleibst du so fern,
verbirgst dich in Zeiten der Not?
2 Voller Hochmut verfolgt der Frevler den Armen.
Sie sollen sich fangen in den Ränken, die sie ersonnen.
3 Denn lobte auch ein Frevler wegen des gierig Verlangten,
pries ein Habgieriger, so lästerte er den HERRN.
4 Überheblich sagt der Frevler: „Gott ahndet nicht.“
„Es gibt keinen Gott.“ So ist sein ganzes Denken.
5 Zu jeder Zeit glücken ihm seine Wege.
Hoch droben und fern von sich wähnt er deine Gerichte.
Alle seine Rivalen faucht er an.
6 Er sagt in seinem Herzen: „Ich werde niemals wanken.
Für Generationen trifft mich kein Unglück.“
7 Sein Mund ist voll Fluch und Trug und Gewaltdrohung,
auf seiner Zunge sind Verderben und Bosheit.
8 Er liegt auf der Lauer in den Gehöften
und will den Schuldlosen heimlich ermorden;
seine Augen spähen aus nach dem Schwachen.
9 Er lauert im Versteck wie ein Löwe im Dickicht,
er lauert darauf, den Armen zu fangen;
er fängt den Armen und zieht ihn in sein Netz.
10 Er duckt sich und kauert sich nieder,
seine Übermacht bringt die Schwachen zu Fall.
11 Er sagt in seinem Herzen: „Gott hat vergessen,
hat sein Angesicht verborgen, niemals sieht er hin.“
12 Steh auf, HERR! Gott, erheb deine Hand,
vergiss nicht die Armen!
13 Warum darf der Frevler Gott lästern
und in seinem Herzen sagen: Du ahndest nicht?
14 Du, ja du, hast Mühsal und Kummer gesehen!
Schau hin und nimm es in deine Hand!
Dir überlässt es der Schwache,
der Waise bist du ein Helfer geworden.
15 Zerbrich den Arm des Frevlers und des Bösen,
ahnde seinen Frevel, sodass man von ihm nichts mehr findet.
16 Der HERR ist König für immer und ewig,
verschwunden sind die Heidenvölker aus seinem Land.
17 Die Sehnsucht der Armen hast du gehört, HERR,
du stärkst ihr Herz, dein Ohr nimmt wahr,
18 um Recht zu verschaffen der Waise und dem Bedrückten.
Kein Mensch mehr verbreitet Schrecken im Land.
Die 1. Strophe (Vers 1-11) ist eine lange Klage über das Treiben „des Frevlers“. Obwohl ständig von „dem Frevler“ im Singular die Rede ist, ist nicht bloß eine bestimmte Einzelperson gemeint, sondern ein Kollektiv – genauso wie bei „dem Armen“. Der Grund für die Armut der Armen ist das Treiben der Frevler.
Der Frevler wird durch sein Reden und Tun aus der Sicht des Armen charakterisiert. Er verfolgt den Armen. Einer Raubkatze gleich schleicht er sich an, um dann den Wehrlosen rücksichtslos zu überfallen, zu berauben und zu ermorden. Seine Methoden sind stets erfolgreich. Seine Rivalen, Konkurrenten (sozusagen „Mit-Löwen“), „faucht er an“, damit sie ihm seine Beute nicht streitig machen. In seinem Mund führt er fünf Dinge (V 7): „Fluch, Trug, Gewaltdrohung, Verderben, Bosheit“. Wenn der Frevler seine Habgier vor¬erst befriedigt hat, dann dankt er Gott auch noch dafür, womit er ihn aber lästert (V 3).
Dreimal wird der Frevler zitiert (V 4.6.11). Es handelt sich in Wahrheit um keine wörtlichen Zitate als vielmehr um Einblicke ins Innere des Frevlers. Seine Grundhaltung soll aufgedeckt werden. Im ersten und dritten Zitat spricht er über Gott, im mittleren über sich. „Ich werde niemals wanken.“ So sprechen in anderen Psalmen die Gerechten, aber bei ihnen rührt diese Zuversicht daher, dass sie sich ganz auf Gott verlassen; sie beziehen ihre Festigkeit und Unerschütter¬lichkeit aus dem Vertrauen auf Gott. Beim Frevler sind diese Worte Ausdruck der Selbstsicherheit, der Überheblichkeit, des „Hochmuts“. „Hochmut“ steht in der Bibel für eine Haltung, die nichts höherstellt als sich selbst. „Es gibt keinen Gott“ – damit ist kein theoretischer, sondern ein praktischer Atheismus gemeint. Nicht durch Worte und Denken, sondern durch sein Verhalten leugnet der Frevler die Existenz Gottes. Es gibt keinen Gott, der hinschaut, der das Verbrechen sieht und ahndet. Und wenn er es sieht, dann hat er es auch schon wieder vergessen. Gott kümmert´s nicht, er ist harmlos, von ihm ist nichts zu befürchten. Gottes Richteramt ist für ihn weit weg (V 5).
Was dem Psalmisten zusetzt, ist, dass Gott bislang tatsächlich nichts unternommen hat, um den Frevler zu widerlegen (vgl. V 1). Darum die 2. Strophe (Vers 12-15), in der aus¬drücklich um Gottes Einschreiten gebeten wird – in bewegenden, drängenden Impera¬tiven. „Nimm es (nämlich das Unrecht zu ahnden bzw. den Armen Recht zu verschaffen) in deine Hand! Dir überlässt es der Schwache.“ Die Armen können an kein menschliches Gericht appellieren, das ihre Sache verteidigte, sie können sich auch nicht selbst wehren gegen das Unrecht, das ihnen geschieht, weil sie machtlos sind, sie können ausschließlich an Gott appellieren. Ihnen bleibt nichts als die Hoffnung, dass es eben doch einen Gott gibt, der „hinschaut und ahndet“.
Die 3. und letzte Strophe (Vers 16-18) ist ein vertrauensvoller Ausblick auf die Zeit, wo Gott „für immer und ewig“ König über das Land sein wird, wo sich die Gottesherrschaft endgültig durchgesetzt haben wird: Da sind die imperialistischen Fremdherrscher („die Heidenvölker“) und ihre einheimischen Handlanger verbannt, da ist die Sehnsucht der Armen gestillt, da werden die Schwachen nicht mehr terrorisiert.
Nicht nur dieser Psalm, der ganze Psalter ist von Armen für Arme geschrieben. Der Psalter ist das Gebetbüchlein der Armen. Aus ihm sprechen die Sorgen und Nöte, Hoffnungen und Sehnsüchte der kleinen Leute vom Land. Sie bezeichnen sich andern-orts als „die Frommen, Gerechten, Demütigen, Redlichen, Stillen im Lande“. Ihr Gegen-über sind „die Frevler, Stolzen, Hochmütigen“ oder auch „Feinde“.
Die Hoffnungen der Armen hat Jesus von Nazaret, selbst einer von ihnen, gültig zusammengefasst: „Dein Reich komme!“ Der Psalter betet das Reich Gottes herbei. Der Psalter unterstützt den Kampf der Armen, dass das Reich Gottes auf Erden Gestalt annimmt.
Wenn wir reiche, satte Wohlstandsbürger der Nordhalbkugel das Psalmenbuch beten, dann stoßen wir zwar hie und da auf einen „schönen“ Psalm, der uns gefällt, erhebt und erbaut, aber im Ganzen werden wir frustriert. Was sollen die ewigen, ermüdenden Feindklagen, die brutalen, aggressiven Feindverwünschungen, die Schreie nach Rache und Vergeltung? Nur allzu schnell haben wir dann sämtliche Vorurteile gegen das AT zur Hand, um solche Psalmen für unbetbar, einem Christen nicht angemessen, durch das Christentum überholt zu erklären. Stattdessen sollten wir uns bewusst machen: Die Psalmen sind nicht für uns geschrieben, sondern für die Armen. Wir können sie höchstens beten in Solidarität mit ihnen.
„Dein Reich komme!“ heißt auch: unser Wohlstand schwinde, der Raubkapitalismus werde ausgemerzt, die Ausbeutung der Südhalbkugel finde ein Ende. Wir müssen zum Gutteil gegen uns selber anbeten, wenn wir den Psalter mitbeten wollen.
Der Großteil des Psalters ist „unbetbar“ für uns … es sei denn, wir haben die bewusste „Option für die Armen“ getroffen, eine „Weltsicht von unten“ gewählt, ein „Leben in Fülle für alle“ erkoren. Nur so können wir auch Ps 10 beten.