„Was siehst du?“

01. Aug 2022

Gott fragt den Menschen (8): Jer 1,11

In der Taufe wurden wir alle zu Königen, Priestern und Propheten gesalbt. Es tut Not, die prophetische Dimension unseres Christseins neu zu entdecken.

„Was siehst du?“

Das Prophetentum im Alten Israel lässt sich nicht auf einen klaren Nenner bringen. Es gab sehr verschiedene Formen prophetischer Existenz. Im Alten Testament werden vier verschiedene Titel für Prophetinnen und Propheten verwendet: Gottesmann, Seher, Visionär und „Berufener Rufer bzw. Ruferin“. Die beiden letzten Titel haben unser Bild von Propheten am stärksten geprägt: Wir denken dabei an Frauen und Männer, die visionär in die Zukunft schauen konnten und das Erkannte ihren Mitmenschen mitteilten, oft in Form eines eindringlichen Appells zur Umkehr. Wie sehr sehnen wir uns nach prophetischen Stimmen, die uns angesichts der Nöte unserer Zeit – Krieg, Klimakatastrophe, Kirchenkrise – sagen können, wo der Weg hin zu einer besseren Zukunft zu finden ist!

Es erscheint mir wichtig, dass wir auch auf die beiden ersten Titel achten, Gottesmann und Seher. Propheten waren Menschen, die ganz von Gott her und auf Gott hin lebten. Diese Verbundenheit mit Gott schenkte ihnen einen anderen Blick auf die Wirklichkeit. Immer wieder geschah es, dass sie in etwas ganz Alltäglichem einen Anruf Gottes vernahmen. Sehr anschaulich wird das beim Propheten Jeremia. Seine ersten Visionen waren ganz unspektakulär. „Das Wort des HERRN erging an mich: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig sehe ich. Da sprach der HERR zu mir: Du hast richtig gesehen; denn ich wache über mein Wort und führe es aus.“ (Jer 1,11) Der Mandelbaum heißt auf hebräisch „Wachsamer“, weil er der erste Baum ist, der im Februar zu blühen beginnt. Jeremia sah den Baum, vernahm in sich die tiefere Bedeutung seines Namens und erhielt dadurch ein neues Verständnis für Gottes Wachsamkeit über seine Verheißungen, die sicher eintreffen werden wie der Frühling. Das zweite Gotteswort empfing Jeremia, als er siedendes Wasser in einem Kochtopf betrachtete, der von oben her leicht geneigt war. Ihm ging auf: So wie bald der Topf überkochen und das Wasser über den Küchenboden ausgießen wird, so wird sich von oben (von Norden) her etwas sehr Übles über sein Volk ergießen. Jeremia ahnte, dass bald eine neue kriegerische Invasion drohte, durch die alles zerstört werden würde (vgl. Jer 1,13-16). Mitten in der Küche vernahm er so den Auftrag, in Gottes Namen zur Umkehr aufzurufen.

„Was siehst du?“, diese Frage Gottes vernahm Jeremia in seinem Inneren. Und er hatte offene Augen, als er durch die Natur ging und als er bei der Hausarbeit in der Küche war. Einen solchen „prophetischen Blick“ hatte auch Jesus. Er sah die Blumen am Wegesrand und sie sprachen zu ihm von Gottes wunderbarem Wirken. Er sah die Vögel am Himmel und sie erinnerten ihn an Gottes Fürsorge für die Seinen (vgl. Mt 6,26-34). Und er sah Frauen, wie sie in der Küche den Sauerteig vorbereiteten und ihm ging auf: So ist es auch mit dem Reich Gottes. Wie ein wenig Sauerteig eine große Menge Mehl durchsäuert, so beginnt auch Gottes neue Welt mit etwas ganz Kleinem, Unscheinbaren, das eine große Wirkung haben wird (vgl. Lk 13,20f).

Wie können auch wir einen solchen prophetischen Blick auf die Wirklichkeit bekommen? Wie können wir mitten im Alltag Gottes Botschaft an uns vernehmen? Jesus betonte immer wieder: Das geht nur, wenn ihr die Sorgen loslasst. Wenn ihr damit aufhört, krampfhaft euer Leben sichern zu wollen. Die moderne Wahrnehmungspsychologie hat das auf vielfältige Weise bestätigt und es mit dem sperrigen Begriff der „Unaufmerksamkeitsblindheit“ zu beschreiben versucht. In vielen Experimenten wurde nachgewiesen, dass eine zu angestrengte Konzentration auf etwas, was uns wichtig erscheint, uns blind macht selbst für das Offensichtliche. Sehr bekannt ist das „Gorilla-Experiment“ der Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons. Sie forderten ihre Probanden auf, sechs Basketballspielern zuzuschauen, die sich einander Bälle zuwarfen. Drei der Spieler hatten weiße, drei schwarze Kleidung. Die Probanten sollten zählen, wie oft die weißen Spieler sich den Ball zuwarfen. Irgendwann lief dann auf ziemlich auffällige Weise ein Mensch durch das Spielfeld, der ein Gorilla-Kostüm trug. Doch das Erstaunliche war, dass ein Großteil der Probanden den Gorilla nicht wahrnahmen. Ihre Aufmerksamkeit für das, was sie erreichen wollten, hatte sie unaufmerksam für alles andere gemacht und blind für ein unerwartetes Ereignis.

Es scheint paradox: „Prophetische Augen“, die das Offensichtliche wahrnehmen, nämlich Gottes Gegenwart in unserem Alltag und seine Führung, kann man nur bekommen, wenn man sich von den Sorgen befreit. Solange wir unbedingt selbst die Lösung für all unsere Probleme finden wollen, sind wir „betriebsblind“. Nur wenn wir im Vertrauen auf Gottes Fürsorge und Führung uns dem Leben stellen, können uns die Augen aufgehen. Dann können wir erkennen, welchen Weg wir gehen sollen, um das Leben zu finden.

Ralf Huning SVD

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