Vortragsreihe AVK: Menschenwürde im islamischen Denken

Deutschland

13. Jan 2025

Engin Karahan stellte dem Publikum seines Vortrags zwei Denkschulen der Koran-Auslegung vor, die die Menschenwürde unterschiedlich betrachten: als Möglichkeit zu Freiheit und Verantwortung oder als reines Gnadenprivileg.

Vortragsreihe AVK: Menschenwürde im islamischen Denken

Im Vortrag der Akademie Völker und Kulturen am 10. Januar 2025 führte Engin Karahan die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf eine Spurensuche nach muslimischen Verständnismöglichkeiten von Menschenwürde. Dafür stellte er zwei Denkansätze aus der Tradition vor, die die Offenbarung im Koran sehr unterschiedlich auslegen. Eine Auffassung ist von der Freiheit des Menschen zu Vernunft und Selbstverantwortung geprägt, die andere betrachtet Menschenwürde als reines Gnadenprivileg der Religionszugehörigkeit.

Der Anfang für ein Miteinander

In seiner Einleitung legte Engin Karahan von der Alhambra-Gesellschaft in Köln dar, in welchem kulturellen und religiösen Kontext sich die Offenbarung des Koran ereignete: Es gab wenig Beziehung zu Gott. Es war eine Zeit eines abwesenden Gottes. Die Gesellschaft war pessimistisch und in viele gegensätzliche Gruppen aufgespalten.

Mit der Offenbarung des Koran wurde die Beziehung zwischen Gott, Mensch und Schöpfung hergestellt. Diese Offenbarung wird mit dem Tod des Propheten als abgeschlossen angesehen. In der langen Geschichte des Islam ging es seither darum, diese Offenbarung zu verstehen und zu interpretieren – und das auf sehr unterschiedliche Weise.

Zwischen Basra und Samarkand

Eine Denkschule geht auf Abu al-Ash’ari zurück, der 874–936 in Basra (im heutigen Irak) lebte, also im Zentrum der damaligen muslimischen Gesellschaft. Diese asch’aritische Schule betont die umfassende Allmacht Gottes, die aus Gnade den Menschen erschafft und ihm auch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Gläubigen ermöglicht. Von daher ergibt sich, dass der Mensch in die Welt gesetzt ist, aber es bleibt für die menschliche Verantwortlichkeit und Freiheit eher wenig Raum.

Im Gegensatz dazu stellte Engin Karahan eine andere Sicht mit der Denkschule von Abu Mansur al-Maturidi (893–941) vor, der etwa gleichzeitig lebte, aber in Samarkand an der Seidenstraße (heute Usbekistan) in einem ganz anderen gesellschaftlichen Umfeld am Rand der muslimischen Gesellschaft. Für Maturidi sind die Vernunft und die Entscheidungsfreiheit des Menschen wesentliche Voraussetzungen, um die Offenbarung zu erkennen und den Glauben anzunehmen.

Verschiedene Auslegungen des Koran eröffnen unterschiedliche Sichtweisen auf die Würde des Menschen. (Foto: Korneliusz Konsek SVD)
Verschiedene Auslegungen des Koran eröffnen unterschiedliche Sichtweisen auf die Würde des Menschen. (Foto: Korneliusz Konsek SVD)

Damit kommt Maturidi auch zur Auffassung, dass über Vernunft und Freiheit jeder Mensch die Möglichkeit zu einem guten Leben in Gerechtigkeit und moralischer Ausrichtung hat und so zu seiner Seligkeit findet. Daraus ergibt sich die Stellung des Menschen in der Welt als Geschöpf und Verwalter Gottes. Diese Denkschule wurde über lange Jahrhunderte nicht weiter beachtet; erst in neuerer Zeit wurde sie wieder aufgegriffen.

Eine Frage – Tausend Antworten

Engin Karahan betonte, dass die Grunddaten der Offenbarung für alle Muslime feststehen, aber die zahlreichen Denkschulen wählen verschiedene Vorgehensweisen, wie sie diese Offenbarung verstehen. Insofern gibt es auf die Frage nach der Menschenwürde recht verschiedene Antworten, je nachdem, in welcher Tradition jemand steht. Ein einheitliches „muslimisches Verständnis“ ist also schwer zu definieren.

Für die heutige Frage nach einem Verständnis von Menschenwürde sollte es nach Karahan darum gehen, sich die Voraussetzungen – welcher Denkschule man folgen will – bewusst zu machen und sie im Gespräch auch zu erklären. Aus diesen Voraussetzungen ergeben sich die weiteren Auffassungen zur Allmacht Gottes, zur Wahrnehmung und Möglichkeit der menschlichen Freiheit und Verantwortung und somit zur Menschenwürde.

Engin Karahan würde sich eher auf die Seite der maturidischen Tradition stellen, weil sie dem heutigen Menschen mehr Potential und Möglichkeiten für Vernunft, Freiheit und Verantwortung eröffnet. Mit Freiheit, Vernunft und Verantwortung sind dem Menschen Wegweiser gegeben, die ihn auf der Spurensuche nach der Menschenwürde und dem Verhältnis zu Gott verlässlich leiten können.

Text: Christian Tauchner SVD

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