Deutschland
19. Apr 2025
Pater Polykarp Ulin Agan hat in der Osternacht am Missionspriesterseminar Sankt Augustin über die Macht der Erinnerung gepredigt. Manche Erinnerungen sind „gefährlich“, denn sie halten uns davon ab, weiterzumachen wie bisher.
Vor einem Monat war ich auf einer Dienstreise in Indonesien. Auf die dringende Bitte meiner Schwester hin habe ich mich verpflichtet, das Grab meiner Eltern zu besuchen, auch wenn es nur für zwei Tage war. Nach dem Tod meiner Eltern steht das Haus der Familie nun leer. Ein guter Nachbar, dem wir sehr dankbar sind, kümmert sich jedoch um das Haus, so dass wir Kinder gelegentlich die Möglichkeit haben, im Haus unserer Eltern zu übernachten, wenn wir nach Hause kommen.
Als ich vor einem Monat für zwei Tage zu Hause war, brachte mir eine Nachbarin ihre selbstgebackenen Kekse mit. Plötzlich rochen sie eigentümlicherweise wie damals, wie die Kekse meiner Mutter. Plötzlich ist durch den Geruch die Zeit wie stehen geblieben. Als ob man durch den Duft ein Reich der Unvergänglichkeit betritt. Klar, ich bin längst nicht mehr der kleine Junge, aber plötzlich ist es so, als ob ich als kleiner Junge in der Küche stehe, die Mutter ist am Backen, der Duft der Kekse. Und ich darf ausnahmsweise die Schüssel mit dem Teig leerkratzen und ganz viele Kekse essen.
Der Duft hat mich in eine Welt entführt, in der Zeit keine Rolle mehr zu spielen scheint. Gerade dieser Duft, ja dieser Geruch – Muttergeruch, Vatergeruch, Geruch des „Elternhauses“ zieht mich weiter an, auch in Zukunft meinen Heimaturlaub dort zu verbringen. Dort bin ich aufgewachsen in der Liebe zweier Engel, die mir mit unendlicher Geduld mir das Ja zum Leben beigebracht haben.
Dass Erinnerungen mehr sind, viel mehr sind, als blanke Informationen, die irgendwo in den Windungen des Gehirns abgespeichert werden: Diese Erfahrung macht man längst nicht nur im Glauben. Wie ein riesiger Schatz ist so viel an Erlebtem gespeichert in mir. Manches liegt oben auf, manches tiefer vergraben. Einiges kann ganz verschütt gehen. Oder wie es der Dichter Kurt Marti im Rückblick auf das Leben gesagt hat: „Am Anfang war die Zukunft. Dann häuften sich Erinnerungen. Am Ende räumt das Vergessen auf."
Die Frauen aus Galiläa, die mit Jesus zusammen gewesen waren, begannen interessanterweise ebenfalls gleich nach seinem Tode mit ihrer Erinnerungsarbeit. Am Karfreitag waren sie dabei, als man Jesus in die Grabeshöhle gelegt hatte. Übrigens bedeutet das griechische Wort für Grab, das wir im Neuen Testament finden, „Erinnerungsmal“ oder „Gedächtnisstätte“.
Leider drehte sich ihre Erinnerungsarbeit nur um den Karfreitag. Für die Frauen war nicht Ostern, sondern Karfreitag. Sie trugen ihre letzten Hoffnungen zu Grabe. Der Herr ist tot; die Geschichte mit ihm ist aus. Was bleibt ihnen da noch in ihrer Ratlosigkeit? Dankbare Erinnerung und der hilflose Versuch, mit Salben und Kräutern den Geruch der Verwesung zu bannen und die äußere Gestalt des Leichnams zu erhalten. Das ist alles. Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen.
Aber Gott ist nicht Gott, wenn Er nicht die Initiative ergriffen hat. „Und es geschah: Während sie darüber ratlos waren, siehe, da traten zwei Männer in leuchtenden Gewändern zu ihnen. […] Erinnert euch an das, was er euch gesagt hat, als er noch in Galiläa war: Der Menschensohn muss in die Hände sündiger Menschen ausgeliefert und gekreuzigt werden und am dritten Tag auferstehen. Da erinnerten sie sich an seine Worte. Und sie kehrten vom Grab zurück und berichteten das alles den Elf und allen Übrigen.“
Viele Menschen sagen vielleicht: Erinnern reicht nicht. Das stimmt, wenn es nichts austrägt für das, was jetzt ist und was kommt. Aber ein Erinnern, das unsere Zukunft prägt und verändert, das ist kräftig und lebendig. Es ist sogar gefährlich, so habe ich es beim Theologen Johann Baptist Metz gelernt. Er hatte dabei unsere christlichen Erinnerungen vor Augen. Die sind gefährlich, weil sie uns heute und morgen immer sofort in Frage stellen, vor allem – im Kontext von Metz – sobald wir die Schwachen und Leidenden aus den Augen verlieren.
Die christliche Erinnerung an die Auferstehung Jesu ist gefährlich! Sie ist gefährlich, weil eine solche Erinnerung uns nicht mehr erlaubt, Ostern einfach zu feiern, weil der Kalender es vorschreibt. Wo Gott unmittelbar am Werk ist, da verschlägt’s den Menschen die Sprache. Es gibt kein Ostern ohne das tiefe Erschrecken darüber, dass mit dem, was hier in Christus geschehen ist, die Skala menschlicher Erwartungen gänzlich auf den Kopf gestellt ist.
Die christliche Erinnerung an die Auferstehung Jesu ist gefährlich, weil sie es uns nicht mehr erlaubt, eine tote Gestalt so leicht mit künstlichen Mitteln zu konservieren und den Gestank der Verwesung mit dem Duft von Balsam zu vertreiben. Wie viel in der Kirche ist solcher Mumiendienst? Wenn der Auferstandene unser Fundament ist, dann dürfen wir nicht die Zeit damit vertrödeln, die Gräber überholter Institutionen zu pflegen.
Die christliche Erinnerung an die Auferstehung Jesu ist gefährlich, weil diese Erinnerung immer mit einem Auftrag verbunden ist: „Da erinnerten sie sich an seine Worte. Und sie kehrten vom Grab zurück und berichteten das alles den Elf und allen Übrigen.“ Ostern bleibt nur dann in uns lebendig, wenn wir bezeugen, dass Jesus lebt, wenn wir bezeugen, dass dieser Jesus mehr vermag, als das Leben zu dekorieren und den Tod mit Kränzen und schönen Reden zu verbrämen.
Ich bin froh, zu einer österlichen Glaubensgemeinschaft gehören zu dürfen, in der ich immer wieder eine Wende in meinem Leben vollziehen kann, ohne darüber nachzudenken, ob es schon zu spät ist oder nicht. Hier, am Nullpunkt einer menschlichen Existenz, dort, wo ich mit meinen Fähigkeiten buchstäblich am Ende bin, da beginnt Gott. Der Stein ist weggewälzt. Am Ort des Todes ergeht die Kunde vom neuen Leben. Jesus ist auferstanden. Das ist das Fundament der Osterbotschaft und des Osterglaubens. Mit ihm ist unser Weg keine Sackgasse mehr, nicht mehr nur ein Unterwegs zum Friedhof, sondern ein Unterwegs in die Zukunft Gottes.
Predigt von Rektor Pater Polykarp Ulin Agan, Osternacht 2025
Bilder: Gregor Czora, Video: Sebastian Quillmann