Deutschland
12. Okt 2024
Prof. Dr. Michelle Becka hat mit ihrem Vortrag "Menschenwürde – unendlich oder unantastbar?" die Vortragsreihe "Menschenwürde" der Akademie Völker und Kulturen eröffnet. Sie führte ein in Begriffe und Konzepte.
Am 21. Dezember 1511 protestierte in Santo Domingo der junge Dominikaner Antonio de Montesinos in einer Adventspredigt gegen die Versklavung der so genannten „Indios“. Seine flammende Anklage an seine Zeitgenossen hat nichts von ihrer Kraft verloren: "Sind sie etwa keine Menschen? Haben sie keine vernunftbegabten Seelen? Seid ihr nicht verpflichtet, sie wie euch selbst zu lieben? Versteht ihr das nicht? Fühlt ihr das nicht?"
"Sind sie etwa keine Menschen? Das ist immer noch eine zentrale Frage", sagt die Ethikerin Prof. Dr. Michelle Becka zu Beginn ihres Vortrages. Sie lehrt Christliche Sozialethik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Ethik im Strafvollzug, Menschenrechte, Grundfragen der Ethik und postkoloniale und interkulturelle Fragen in der Ethik.
Als nächstes tastete sie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland an – und zwar buchstäblich. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht im ersten Artikel unserer Verfassung, deren 75. Jahrestag wir im Mai 2024 feiern durften. „Der Indikativ ist die höchste Form des Sollens. Auch wenn die Erfahrung eine andere ist: Denn die Würde des Menschen wird immer wieder angetastet.“
Mit ihrem Auftaktvortrag zur Reihe „Menschenwürde“ der Akademie Völker und Kulturen schlug Becka den weiten Bogen von der Genesis über den Galaterbrief zu den Stoikern und schließlich Kants kategorischem Imperativ und seiner Auffassung von Selbstbestimmung. In diesen Kontext ordnete sie die Erklärung des Vatikans zur Menschenwürde „Dignitas Infinita“ von 2024 kritisch ein und zog schließlich die Verbindung zwischen dem Begriff der Menschenwürde und den Menschenrechten.
Von der Idee der Gottesebenbildlichkeit ausgehend skizzierte sie den christlichen Begriff einer inhärenten Menschenwürde, die dem Menschen innewohnt und die er sich nicht verdienen muss. Die Gottesebenbildlichkeit, eigentlich eine Form von Hoheitstitel in der Antike, unterstreiche die Besonderheit des Menschen. Demgegenüber habe Paulus mit der Gotteskindschaft einen anderen Aspekt des christlichen Menschenwürde-Begriffs geprägt: die Gleichheit aller vor Gott.
Als nächste Station auf der Reise durch die Geistesgeschichte machte Michelle Becka mit ihrem Publikum bei der stoischen Philosophie der Römischen Antike Halt. Der Stoa sei die Unterscheidung von Würde und Ehre zu verdanken, indem die Würde im Gegensatz zur Ehre als etwas angesehen wurde, das von allem Äußeren unabhängig ist. Die Würde ist vielmehr an Inneres geknüpft, an den Funken der Vernunft.
Doch weder aus der Erkenntnis der Stoiker noch aus dem christlichen Menschenbild wurde die entscheidende Konsequenz gezogen, konstatierte Becka. „Eigentlich müssten wir einander dann auch entsprechend behandeln. Aber dieser Schritt folgte erst viel später, in der Aufklärung.“ Damit gelangte die Ethikerin zu Immanuel Kant und stellte dessen kategorischen Imperativ in seiner weniger bekannten dritten Formulierung vor: „Handle so, dass Du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“
„Behandle jeden als Selbstzeck, nicht als Mittel zum Zweck“, übersetzt Becka, und leitet zum nächsten entscheidenden Satz von Kant über: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent , gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Daraus leitete Becka ab: „Ein Mensch darf nicht zum Objekt gemacht werden.“
All diese Begriffe von Menschenwürde haben eines gemeinsam: Die Würde des Menschen kann verletzt werden, aber nicht verloren gehen. An dieser Stelle setzte Michelle Becka mit ihrem zentralen Kritikpunkt an dem päpstlichen Schreiben „Dignitas Infinita“ an. Es beschreibt „vier Unterscheidungen“ im Verständnis von Würde: die ontologische Würde, die der inhärenten Würde entspricht, die sittliche Würde, die soziale Würde und schließlich die existenzielle Würde. Die sittliche Würde werde definiert als etwas, das der Mensch verlieren könne, gab Becka wieder.
„Das hinterlässt eine merkwürdige Spannung. Eigentlich hat die Kirche ihre Stärke darin, dass sie sagt: Du kannst fehlgehen, du kannst sündigen, aber du hast noch deine Würde“, erläuterte sie. „Die Würde kann verletzt werden – durch fremdes oder eigenes Handeln – sogar so massiv, dass der Mensch selbst nicht mehr glaubt, sie zu haben, aber er hat sie noch.“
Bei der Annäherung an mögliche Definitionen, was genau die Menschenwürde ausmacht, gelangte Michelle Becka schnell an den Punkt, über das Subjekt dieser Würde hinaus zu schauen – auf die Handlungen des menschlichen Alltags. In deren selbstbestimmtem Vollzug zeige und entfalte sich die Würde des Menschen. Gesellschaften versuchten, diese Handlungsvollzüge des Lebens als objektives Gut mithilfe des Rechts zu schützen.
So sei die Erklärung der Menschenrechte „ein Reflex auf die Erfahrung von versehrtem Leben“, sagte Becka und konkretisierte: „Nach dem Holocaust hat man einen Boden gesucht, den man einziehen konnte.“ Einerseits zeige sich an der fortwährenden Verletzung der Menschenrechte, dass „alle Konzeptionen von Menschenwürde unwirksam werden, wenn ich jemandem das Menschsein abspreche“. Hier schließt sich der Kreis zu der Frage vom Anfang: „Sind sie etwa keine Menschen?“
Doch zugleich sei auch klar: Sie einem Menschen abzusprechen, ändere nichts an seiner Würde. Und dass die Menschenrechte sich schwer durchsetzen lassen, spreche nicht gegen sie: „Nur weil eine Norm in der Praxis nicht eingehalten wird, muss die Norm nicht falsch sein. Wir können von der Norm ausgehend die gesellschaftliche Realität kritisieren.“
Hier finden Sie Termine und Informationen zu den weiteren Vorträgen der Akademie Völker und Kulturen zum Thema Menschenwürde.