Deutschland
19. Apr 2022
"Auf welcher Seite steht Gott?" Pater Dr. Fidelis Regi Waton SVD geht dieser Frage nach im Anbetracht des furchtbaren Krieges in der Ukraine. Die Erkenntnis aus der Geschichte Israels lautet: Gott steht auf der Seite der Opfer.
Der Angriff des großen Russlands auf seinen kleinen Bruder (die Ukraine) erinnert sofort an die Beschreibung des legendären ersten biblischen Brudermordes. Vom Neid zerfressen und in einem Wutanfall bringt Kain seinen Bruder Abel um. Für einen Rechtsanwalt gehört dieser Kriminalfall eindeutig zur Kategorie des Mordes aus niedrigen Beweggründen.
Ethnologisch gesehen zählen Russland und die Ukraine zu den ostslawischen Völkern. Sie verbindet zunächst eine gemeinsame Kultur. Dieser Krieg Putins ist demzufolge ein Bruderkrieg von Brudervölkern. Die antike Brudermordgeschichte scheint sich also zu wiederholen. Der Bruder erschlägt den Bruder aus Eifersucht und Missgunst.
Die kulturelle Verbindung dieser Brüdervölker wird dann später durch die prägende Religion bekräftigt. Die christliche orthodoxe Kirche hat einen beachtlichen Einfluss in diesen beiden Ländern, auch im Bereich der Politik. Sie sorgt für eine wichtige Sinn- und Identitätsstiftung, obwohl auch andere Religionen, Konfessionen oder Konfessionslose diese Gebiete besiedeln.
Neben dem territorialen und politischen Anspruch spielt die Religion auch eine kleine Rolle bei diesem aktuellen Krieg im Herzen Europas. Die ukrainische orthodoxe Kirche ist in zwei Lager gespalten. Die eine heißt die orthodoxe Kirche der Ukraine, die weltoffen ist. Die andere ist die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, die mit Moskau verbunden ist.
In Russland fungiert die russisch-orthodoxe Kirche (ROK) inoffiziell als Staatsreligion. Sie versteht sich als nationale Institution an der Seite der Regierenden. Alle anderen christlichen Konfessionen und Religionen werden als „unrussisch“ bewertet. Persönlich bekennen sich Präsident Wladimir Putin und seine Elite zur ROK. Der gegenwärtige Moskauer Patriarch Kirill pflegt einen engen Kontakt zum Kreis der Regierung und des Militärs. Merkwürdigerweise lehnte er illegalen Putins Überfall auf die Ukraine als die Bezeichnung des Kriegs ab. Es ist eventuell eine Art der Verteidigung des Territorialen. Der Militärdienst ist seiner Ansicht nach die tätige Nächstenliebe.
Unmittelbar nach der Aggression der russischen Truppen sahen wir die Bilder, wo viele Menschen in Kirchen, auf Straßen und Plätzen, vor Kreuze und Ikonen für eine sofortige Beendung des Kriegs beteten. Am Tag vor der Invasion Russlands wünschte der Patriarch Kirill seinem skrupellosen Präsidenten Seelenfrieden und Gottes Hilfe bei seinem ehrenvollen Dienst am russischen Volk.
Wer wird bei Gott Gehör finden? Auf welcher Seite steht derselbe angeflehte Gott? Darauf scheint das biblische Alte Testament eine klare Antwort zu geben. Nach dem oben genannten Brudermord verlangt Gott, dass Kain seine Untat rechtfertigen muss. Jahweh sagt: „Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden“ (Gen 4,10). Gott ist parteiisch und steht auf der Seite des Opfers. Dieses Sich-Positionieren Gottes wird später bekräftigt in der Geschichte Israels. Nachdem die Israeliten als Ausländer in Ägypten nicht mehr geduldet worden sind, ergreift die Regierung Pharaos Zwangsmaßnahmen. Die Israeliten werden zur unmenschlichen Sklavenarbeit gezwungen, und um ihre Vermehrung zu stoppen, dürfen sie keine Kinder mehr bekommen, und wenn doch, so werden diese getötet. Darunter leidet das erwählte Volk Gottes massiv. Dann wird Gott ins Spiel gebracht. Stöhnen, Klagen und Hilferufe dieser Unterdrückten steigen aus ihrem Sklavendasein zu Gott empor, und Gott nimmt es wahr (Ex 2,23-25). So beauftragt Gott Mose, sein Volk aus Ägypten zu befreien und in das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen, zu führen.
Diese scheinbar klare Antwort wird später jedoch verdunkelt. Das von Gott befreite Volk wandelt sich zum Aggressor. Seine Brutalität wird von Gott befördert und somit religiös legimitiert. Dies lesen wir beispielsweise bei der Erzählung der Landnahme. Das Land Kanaan, das Gott seinem Volk verspricht, ist nicht leer. Dort wohnen die Kanaaniter. Vor der Eroberung der Stadt Jericho ordnet Gott an, dass alles, was in der Stadt war, Männer und Frauen, Kinder, Greise und alle Tiere, getötet werden muss (Jos 6,21). Gemäß dem Befehl Gottes führen die Israeliten den mehrfachen Genozid gewissenhaft aus. Das ist eines von vielen Beispielen, wo Gott auf der Seite der Täter steht, und Gewalt und Grausamkeit befiehlt oder zustimmt.
Das ist die gravierende Paradoxie im Alten Testament. Gott ist nicht gleichgültig, sondern er greift in die Geschichte ein, aber sein Eingriff hinterlässt helle und dunkle Spuren. Einmal offenbart er sich als ein Fürsprecher der Opfer, stellt sich dann ein andermal auf die Seite der Gewalttätigen.
Später versucht Jesus von Nazareth, dieses falsche und missbrauchte Gottesbild zu revidieren. Mit einer vorbildlichen Entschiedenheit stellt sich Jesus auf der Seite der Opfer und geht den Weg der Gewaltlosigkeit konsequent. In seiner Lehre der Nächstenliebe, die das wesentliche Erkennungszeichen seiner Anhänger ist, markiert Jesus u.a., dass seine Nachfolger eher ihr Leben füreinander geben, als anderen das Leben zu nehmen. Die ersten Christen versuchten, diese jesuanische Vorgabe umzusetzen. Sie durften keine Menschen töten, und wegen dieser knallharten Maxime dienten sie nicht im römischen Heer mit dem Risiko, dass sie verfolgt, eingesperrt und umgebracht wurden. Im Laufe der Geschichte wurde diese Vorschrift leider mehrfach gebrochen.
Im Namen Gottes werden Kriege und Eroberungen geführt, Morde und Brutalität gerechtfertigt. Das ist jedoch kein unsinniges Privileg des Christentums. Dass Religion in Kriege und Konflikte involviert ist, dafür könnte eine sehr lange Liste aufgestellt werden. Die Religion ist einerseits in der Lage, zu humanisieren, sie kann andererseits aber auch barbarisieren.
In seiner Gefängniszelle entdeckte im Jahr 1977 der argentinische Nobelfriedenspreisträger Adolfo Pérez Esquivel eine an der Wand mit blutgeschriebene Inschrift, die auf Spanisch lautet: „Dios no mata“ (Gott tötet nicht). Dies differenziert Gott von Menschen. Gott tötet nicht und Menschen töten.
Pater Dr. Fidelis Regi Waton SVD