Den Menschen in Treue begegnen

Deutschland

11. Apr 2022

Zwei Steyler Mitbrüder, Bruder Bernd Ruffing SVD und Bruder Emanuel Huemer SVD, starteten vor einem Jahr eine ganz besondere Mission in Berlin Kreuzberg. Nach einem Jahr Engagement im sozialen Brennpunkt blicken wir gemeinsam zurück.

Den Menschen in Treue begegnen

Sie haben schon mehr als die berühmten „100 Tage“ in ihrem Sozialprojekt in Berlin Kreuzberg verbracht. Hat sich Ihr Blick auf das „Projekt“ im „Realitäts-Check“ verändert?
Ja, vor mehr als einem Jahr hat uns das Bistum eingeladen, hier vor Ort als Steyler Missionare präsent zu sein. „Projektcharakter“ liegt für uns lediglich darin, dass ein Projekt ein offenes Ende hat und dass wir nicht angetreten sind, um 100 Jahre Steyler Präsenz zu starten. Hier und jetzt sind wir da und das ist gut. Wir werden in den Gemeinden als die „Brüder“ gesehen oder als „die Steyler“. Man verbindet aber keine „Projektidee“ mit uns, vielmehr wissen die Menschen, dass wir hier sind, um mitzumachen. Nach einem Jahr wissen schon alle, für was sie uns fragen, wobei wir mitmachen und wofür wir zu gewinnen sind. Als „sozial“ sehen wir uns allemal, denn unser „Präsent-Sein“ ist immer auf Menschen ausgerichtet. Präsent sind wir einfach, weil wir unseren Lebensmittelpunkt hier haben und feste Zeiten, in denen wir uns engagieren. So weiß André, wann er Emanuel wo trifft, um Bernd, was zu geben. Wir gehen auch bewusst auf Fremde zu, die sich häufig als Touristen hier umschauen. Auch da entstehen mitunter interessante Kurzgespräche, darüber wie Kirche im Allgemeinen erlebt wird und wie weit viele von kirchlichen Begegnungen entfernt sind. Dann auf jemanden zu treffen, der fragt: „Wollen Sie mal einen Blick in die Kirche werfen“ ist so irritierend für viele, dass sie gar nicht nein sagen können und staunend mit offenem Mund hinter ihren FFP2 Masken in unserer Kirche im Wrangelkiez stehen, da wo 100 Menschen am Nachmittag für ein warmes Essen anstehen, wo der Gemüsehändler gegenüber seine Waren anpreist, wo Dealer ihre Drogen anbieten und Kinder spielen.

Wie sind Sie in Kontakt mit den Bedürftigen?
Am Anfang stehen Namen. „Wie heißt Du?“, das ist oft die erste Frage und das heißt auch, ich interessiere mich für Dich. Es fängt damit an, dass wir uns von den Lebensgeschichten der Menschen berühren lassen und dass wir ihnen versuchen, ihnen dann ein Bruder zu sein, dann, wenn Beziehungen langsam entstehen. Zum Beispiel, wenn Timo anruft und sagt: „Jetzt brauche ich dich.“ Und der dann einfach eine Nacht auf dem Sofa schlafen kann, weil er mit einer traurigen Botschaft nicht allein sein soll. Und daraus kann dann mehr entstehen.
Manchmal sind es Kontakte, die wir nur draußen auf dem Hof vor der Kirche pflegen. Die Menschen schenken uns einen Vorschuss an Vertrauen und teilen uns ihre Lebensrealität mit: Der Strom abgestellt, die Post nicht geöffnet, kein Bett für die Nacht, keine Schuhe, kein Wasser … Das macht betroffen, weil uns die ganze Härte, die die Menschen in der Gesellschaft erleben müssen, hier begegnet. Es ist körperliche und seelische Not (Armut). Für uns ist es ein Lernprozess zu sehen, wie vielfältig unsere Gesellschaft ist. Wir bekommen eine bessere Vorstellung von den Kämpfen, denen Menschen ausgesetzt sind. Es sind Geschichten, die wir sonst nur aus den Medien kannten und jetzt haben sie Namen und konkrete Gesichter. Wir bekommen einen anderen Blick auf unsere Gesellschaft.
Wichtig ist, dass wir nicht die Gebenden sind. Ich bin beschenkt und „humbled“ durch das ehrliche Teilen dieser Geschichten und das, was ich über das Leben lernen darf. Im konkreten Kontakt werde ich beschenkt. „Wie geht es Dir?“, werde ich oft gefragt und es ist keine Floskel, denn die Menschen bleiben dran und fragen später nach. Dranbleiben an den Menschen und am Kontakt, das ist wichtig. Auch gute Worte werden geschenkt, da fällt mir z.B. von Ismael ein, der Zeitungen vor dem Biomarkt verkauft. „Du bekommst ganz bestimmt den Job, Du bist immer so nett! Keine Sorge!“ Von ihm haben wir gelernt, wie demütigend es ist, nicht angeschaut zu werden. „Keiner hat mich angeschaut, den ganzen Tag nicht.“, auch nicht, wenn er stolz seinen Impfausweis in der Hand hat, „damit die Menschen keine Angst vor mir haben“, wie er sagt.

Die "Brüder"
Gottesdienst im Freien.

Was können Sie konkret für die Menschen bewirken?
Manchmal kann ich ein Bett für die Nacht vermitteln, aber darum geht es nicht. Ich kann 100 bis 150 Essen mit den anderen Helfenden austeilen, doch darum geht es auch nicht. Es geht ums Stehenbleiben, mich vielleicht mit auf die Bank setzen, Sprachlosigkeit aushalten und vielleicht nur vermitteln, dass sich die andere Person gesehen fühlt. Ismael hat mir ja gezeigt, wie gut das ist, ein gutes Wort mit auf den Weg zu bekommen.
Wenn wir eingeladen werden, Wege mitzugehen, dann ermöglicht das einen Perspektivwechsel, die Gesellschaft von einer anderen Seite zu sehen. Es ermöglicht einen kleinen Einblick in das Leben der Ausgestoßenen und Isolierten, auch wenn dieser Einblick noch winzig klein ist.

Wie sieht Ihr Gemeinschaftsleben in Berlin Kreuzberg aus?
Unser Zusammenleben ist wenig institutionalisiert, es gibt keine Listen. Wir überlegen und entscheiden gemeinsam, wir teilen unseren Wohnraum mit anderen, versuchen Gemeinschaft offen und durchlässig zu leben, nach den Maßstäben unserer persönlichen Möglichkeiten. Und es gibt Facetten des Mitlebens, über die wir gar nicht so öffentlich sprechen wollen und können, um die Personen, die mittlerweile zu uns gehören, zu schützen.
Als Gebetsgemeinschaft sind wir in dem Jahr gut zusammengewachsen. An jedem Tag haben wir ein liturgisches Element, das offen für jeden ist. Und es kommt immer jemand. Das Besondere ist, dass die Gäste den Gaststatus dabei verloren haben und auch bereit sind, selbst eine Gebetszeit anzuleiten. Wenn wir zum Beispiel zu einem Einkehrtag unterwegs sind, dann beten sie ohne, aber sicher für uns.
Unser Zusammenleben zu dritt, mit P. Benno dem Benediktiner, ist immer auch offen für Gäste. Erwähnen wollen wir die guten Kontakte zu den anderen Ordenschristen, besonders mit den Siessener Franziskanerinnen mit denen man Pferde stehlen und spontane Filmabende machen kann, die als Nikolaus vor der Tür stehen und vor allem aber auch als Ordenschristinnen genauso wie wir Wege suchen, missionarisches Ordensleben im Kiez authentisch zu leben- und der Austausch darüber ist schön.

Zum Geburtstag viel Glück. Treffen mit anderen Ordenschristen.
Gebet

In dieser Ausgabe von Steyler aktuell blicken wir auf das Thema Armut. Aus welcher Perspektive sehen Sie das speziell in Ihrem Berliner Bezirk. Hat sich Ihr persönlicher Blick verändert?
Wie schon angedeutet, machen wir die Erfahrung, dass gesellschaftliche Probleme zu konkreten Erfragungen von Menschen werden, deren Namen wir kennen. Hilfsangebote sind da, es gibt vieles im Kiez. Wir haben ein Arztmobil, das immer mittwochs die Menschen ohne Krankenversicherung versorgt, es kommt das Duschmobil für Frauen, weil Frauen in Gemeinschaftsunterkünften Gewalterfahrungen machen mussten, es gibt die Notübernachtung in unseren Pfarrräumen, das Angebot der evangelischen Taborgemeinde mit denen wir gut kooperieren, es gibt den Kiezanker, wo es Kleider, Waschmaschinen und Essen gibt, es gibt Fixpunkte, in denen man sich Drogen setzen kann, es gibt Gangway, die Drogenberatung machen … und es gibt Menschen, die illegal sind, und die oft durch die Netze fallen und es gibt Menschen, die den Zugang ins Hilfesystem noch nicht gefunden haben.
Die Armut hier kann ich nicht losgelöst von politischen Entscheidungen sehen. Wenn Menschen für die Gesellschaft keinen Wert haben, weil sie nichts leisten oder leisten können, dann haben sie wenig Möglichkeiten.
Beim Blick auf das Thema der Wohnungslosigkeit kann man sagen, dass die größten Immobilienkonzerne vergesellschaftet werden sollen, damit mehr leistbarer Wohnraum zur Verfügung steht, der nötig gebraucht wird. In der langen Schlange zur Suppenküche sehen wir nur die Spitze des Eisbergs der Menschen in prekären Wohnverhältnissen. Angesichts dieser Warteschlange ist nicht einzusehen, warum Wohnungen zu Spekulationszwecken leer stehen und dem ausschließlichen Ziel der Gewinnmaximierung einiger Weniger dienen anstatt Menschen ein würdiges Wohnen zu ermöglichen. Mietpreise sollen bezahlbar werden – das ist ein Weg, ein Anfang. Der erfolgreiche Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ sind Früchte einer Bürgerinitiative und von vielen Protesten und Demonstrationen. Wer dabei mitmacht, trägt auch dazu bei, dass weniger Menschen auf Grund von Wohnungsnot auf der Straße und bei uns in der Suppenküche landen.
Wenn ich tgl. 100 Menschen sehe, die sich für ein Essen anstellen müssen denke ich, dass wir als reiche Gesellschaft andere Wege einschlagen könnten.

Emanuel transportiert Gas zum Grillen.
Das Bild hat ein Gast der Suppenküche gemalt.

Wie kann der Armut in unserem relativ reichen Land begegnet werden? Mehr „Charity“ durch die Bevölkerung, wie es in England Tradition ist oder mehr staatliche Unterstützung? Was braucht es Ihrer Meinung nach?
Die Pfarrerin unserer Nachbargemeinde hat uns ein Lied von Bert Brecht in unser Gästebuch geschrieben, das heißt: Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Und der Arme sagte bleich: „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Wir müssen uns den Strukturfragen stellen, in ehrlichen Auseinandersetzungen und Mut aufbringen, mich und meinen (Konsum-) Alltag zu verändern. Klar, das ist leicht gesagt, aber es fängt mit einem ersten und vielleicht noch so kleinen Schritt an.
Ehrenamt ist auch bei uns ein großes Thema und wir sind ja quasi auch ehrenamtlich hier engagiert, weil wir eben keine Projektleiter sein wollen. So wie wir Wandel in uns spüren, geht es vielen anderen Ehrenamtlichen auch, denn Begegnungen verändern und so passiert Wandel.

Haben Sie sich Ziele gesetzt?
Klar! Wir wollen: Die Vision, die wir im Rahmen der Supervision erarbeitet haben, nicht aus dem Blick verlieren. Den Menschen treu sein und ihnen aufrichtig begegnen. Kirche missionieren. Erfahrung in den Arbeitskontexten (Fahrradkurier, KH-Seelsorge) weiterführen und dann reflektieren. Vom Lernen mehr ins Handeln zu kommen. Angebote zu Exerzitien auf der Straße anbieten. Gesprächsangebote weiterhin ausbauen. Psychologische Erste Hilfe für Geflüchtete und Ehrenamtlichen am Berliner Hauptbahnhof anbieten. Dass der Vorgarten wieder blüht und sich im Pfarrgarten Menschen gerne aufhalten. Dass, das zweite Jahr im Kiez zu einem unbeschreiblich guten Jahr für uns wird und dass Lust auf mehr erweckt wird.

Text: Redaktion "Steyler aktuell"
Fotos: Benno Rehländer und andere

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